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Karl Schleussner

Dr. Herbert Demmel

Karl Schleussner
1858-1918

Der blinde Dirketor der Blindenanstalt Nürnberg


Eine überragende blinde Persönlichkeit stand mit Karl Schleussner von 1884 bis 1919 an der Spitze der Blindenanstalt Nürnberg (jetzt Bildungszentrum für Blinde und Sehbehinderte Nürnberg). Er gab dieser jungen Einrichtung Impulse, die weit in die Zukunft wirken sollten. Seiner Erinnerung ist dieser Beitrag, dem weitgehend eine Würdigung von Dr. Ernst Dorner in der Festschrift zum 100jährigen Bestehen der Blindenanstalt Nürnberg 1954 S. 33 ff zugrunde liegt, gewidmet.

1854 führte nürnberger Bürgersinn zur Gründung der zweiten Blindenschule in Bayern. Sechs blinde Kinder fanden in einem gemieteten Haus in der Münzgasse ihre Bildungsstätte. Mit Friedrich Scherer gehörte schon von 1854 bis 1861 ein blinder Pädagoge dem Lehrkörper an. Von 1859 bis 1861 war er Leiter.

Unter Karl Schleussner nahm die Nürnberger Blindenanstalt einen enormen Aufschwung. Er wurde am 24. Januar 1858 in Marktbreit geboren. Nach dem Wunsch seiner Eltern sollte er evangelischer Geistlicher werden. Damit schien sein Bildungsgang und sein Lebensweg vorgezeichnet zu sein. Doch das Schicksal wollte es anders: Noch während er das Gymnasium besuchte, verlor er sein Augenlicht. Dennoch setzte Karl Schleussner den Schulbesuch an seinem bisherigen Gymnasium fort und studierte anschließend an der Universität Erlangen Theologie und alte Sprachen. Zu dieser Zeit gab es noch kein spezielles Gymnasium für Blinde. Weil er ein Kirchenamt nicht erlangen konnte, ließ sich Schleussner 1883 als Privatlehrer in Nürnberg nieder, um auf diese Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Wie Dorner berichtet, bezeugte bereits der junge Student Ein lebhaftes Interesse für alle Fragen des Blindenwesens. Es ist daher ganz natürlich, dass er mit der Blindenanstalt Nürnberg, einer seinerzeit noch sehr kleinen und bescheidenen Einrichtung, in Verbindung trat.

Den Wendepunkt in seinem Leben bedeutete es, als Karl Schleussner im Jahre 1884, also schon im Alter von 26 Jahren, zum Leiter dieser Anstalt berufen wurde. Die Verantwortlichen zeigten hier viel Mut. Ihr Vertrauen sollte nicht enttäuscht werden.

Außer der Schulleitung übernahm Schleussner - zunächst zusammen mit seiner Mutter, später mit seiner aus Coburg stammenden Ehefrau Maria Margaretha Antonie - die Rolle der Hauseltern.

Gemeinsam mit Pfarrer Wilhelm Sucro, der seit 1886 Vorsitzender des St.-Johannis-Vereins (des Trägervereins) war, wurde ein neues Kapitel in der Entwicklung der Blindenanstalt Nürnberg aufgeschlagen.

Als Schleussner die Schulleitung übernahm, zählte das Institut 18 blinde Schüler. Für die steigende Schülerzahl reichten die Räume in der Blumenstraße, in welchen das Institut seit 1863 sein erstes eigenes Zuhause gefunden hatte, nicht mehr aus. Die Sorge des jungen Leiters galt nicht nur der Schule. Er kümmerte sich auch um die handwerkliche Ausbildung der blinden Jugendlichen und um Arbeitsstätten für die Erwachsenen. Für die dem Schulalter entwachsenen Zöglinge musste eine Existenzmöglichkeit geschaffen werden. Ein neues Domizil war unumgänglich geworden. Man trachtete nach einem zweckentsprechenden und allen Anforderungen gerecht werdenden Neubau. Schleussner verließ sich bei der Planung nicht nur auf seine eigenen Vorstellungen, sondern unternahm, was für ihn typisch war, zusammen mit dem verantwortlichen Architekten eine Studienreise, um sich über die Ausgestaltung der damaligen modernsten Blindenanstalten zu informieren.

Das Ergebnis war ein in den Jahren 1892 bis 1893 an der Kobergerstr. 34 im „Gründerstil“ errichteter großzügiger Neubau, der mehr als hundert Blinde beherbergen konnte und den Raumbedarf der Blindenanstalt Nürnberg bis 1978 decken sollte.

Neben der Schule fand die Beschäftigungs- und Versorgungsanstalt mit Werkstätten für Korbmacher und Stuhlflechter und einem Wohnheim ausreichend Platz. Die neue Einrichtung erhielt den Namen: Blindenerziehungs-, Unterrichts-, Beschäftigungs- und Versorgungsanstalt. Denn Schleussner wusste sehr wohl, dass mit der Blindenbildung allein die Lebensfragen blinder Menschen nur zum Teil gelöst waren. Die Vergrößerung der Blindenanstalt durch den Neubau an der Kobergerstraße erstrebte er nicht zuletzt, um genügend große Arbeitsstätten für Blinde einrichten zu können. So sagte er anlässlich der Einweihung des Hauses Kobergerstraße: „Neben der Erziehung und dem Unterricht übernimmt die Anstalt eine dritte Aufgabe: Arbeit", sie, erklärte er, „ist das Zaubermittel, das den Blinden wie den Sehenden allein vor dem Unheil bewahrt.“ Schleussner richtete eigene Lehrlingswerkstätten ein. Für die Erwachsenen unterschied er sorgfältig zwischen Beschäftigungs- und Arbeitsabteilung. In der von ihm eingerichteten Beschäftigungsabteilung arbeiteten Männer und Frauen, welche wegen geringer gewerblicher Fähigkeiten nicht imstande waren, ihren Lebensunterhalt selbständig zu verdienen. Hier kann man eine Vorstufe der heutigen Behindertenwerkstätten sehen. In der Arbeitsabteilung fanden diejenigen Männer, welche ihren Lebensunterhalt durch ihre Arbeiten erwerben konnten, Aufnahme.

Aber auch der Fürsorge für alte blinde Menschen schenkte Schleussner seine Aufmerksamkeit. Ihrer Versorgung sollte das unter seiner Mitwirkung gegründete „Mittelfränkische Blindenheim“ an der Wetzendorfer Straße (jetzt Bielefelder Str.), welches heute noch besteht und immer wieder den Erfordernissen der Zeit angepasst worden ist, dienen.

Schleussner kümmerte sich auch um die Beschäftigung der Blinden, die nach ihrer Ausbildung an ihren Heimatort zurückgekehrt waren. Der von ihm zu diesem Zweck mit ins Leben gerufene Blindenunterstützungsverein machte es sich zur Aufgabe, vor allem die außerhalb der Anstalt lebenden Blinden zu betreuen.

Um ihnen beim Aufbau ihrer Existenz zu helfen, besuchte Schleussner sie persönlich zu Hause und half Schwierigkeiten zu überwinden. Bei den damaligen Verkehrsverhältnissen waren solche Hausbesuche mit großen Strapazen verbunden.

Auch auf pädagogischem Gebiet wirkte Karl Schleussner bahnbrechend. Die erforderlichen „sonderpädagogischen“ Kenntnisse mussten zu dieser Zeit durch eigene Erfahrung und Erfahrungsaustausch erworben werden. Dem dienten u. A. die Blindenlehrerkongresse. Schleussner nahm aktiv an ihnen teil. Er setzte sich tatkräftig für die noch umstrittene Einführung der Brailleblindenschrift an den deutschen Blindenschulen ein und lehrte sie mit großem Erfolgt seinen Schülern. Einem Protokoll der Lokalschulkommission Nürnberg vom 20. Juni 1885 sind folgende Angaben zu entnehmen: „Herr Schleussner, welcher mit einem aus 4 Schülern bestehenden Fortbildungskurs eine Prüfung vornahm, bewährte sich dabei als ein wohlbefähigter Lehrer. Seine Schüler zeigten reges Interesse an allen Unterrichtsgegenständen, rühmenswert ihre Gewandtheit im Gebrauch der Brailleschen Punktierschrift." Auch in den Protokollen der folgenden Jahre wird Schleussner immer erstrangig qualifiziert. Er arbeitete selbst an der Entwicklung einer für die Praxis wichtigen Blindenkurzschrift mit. Darüber hinaus gehörte Schleussner einem Gremium an, das sich um die Schaffung eines Punktschriftsystems für die griechische und hebräische Sprache bemühte. Es ist keine Überraschung, dass Schleussner nach Wegen suchte, das Schreiben der Blindenschrift zu erleichtern. Von ihm stammen die ersten Anregungen zur Entwicklung von Blindenschriftschreibmaschinen.

Schleussner wusste aus seiner eigenen Erfahrung, wie wichtig es für blinde Kinder ist, Lerninhalte durch Anschauung vermittelt zu bekommen. Deshalb widmete er der Entwicklung von geeigneten Lehrmaterialien und von Hilfsmitteln, die weit über Nürnberg hinaus Verbreitung fanden, besondere Aufmerksamkeit. Zahlreiche seiner Erfindungen zeichnen sich durch äußerste Einfachheit aus und tragen damit den Stempel des Genialen. Hier nur ein paar Beispiele: Die Ausführung von schriftlichen Rechenoperationen mit Hilfe von Brailleschrifttafeln erwies sich als sehr umständlich und schwierig. Unter den Hilfsmitteln, die hier Abhilfe schaffen sollten, stellt die Schleussnersche Rechentafel, wie Dorner bemerkt, geradezu das Ei des Kolumbus dar. Bei dieser Erfindung werden die Ziffern der Brailleschrift durch Messingstiftchen gebildet, die in Bohrungen einer gerahmten Holztafel beweglich eingepasst sind. Zur Darstellung von Ziffern nicht benötigte Stifte können einfach weggedrückt werden. Hervorzuheben sind die von Schleussner entwickelten Zeichengeräte. Mit Hilfe von Wachsfäden löste er auf eine sehr einfache Weise das Problem der zeichnerischen Darstellung geometrischer Figuren. Mit einem speziellen Zirkel wurde es möglich mit Wachsfäden Kreisbögen zu ziehen. Die zeichnerische Darstellung mit Wachsfäden war einfach und billig. Besonders Dem Geografieunterricht dienten ein nach den Anregungen Schleussners gestalteter Holzglobus und ein Planetarium. Dieses war so eingerichtet, dass die tastende Hand die Bewegung der Himmelskörper, wenigstens die von Sonne, Erde und Mond und ihre Stellung gegenüber den Fixsternen erfassen konnte. Der in Holz geschnitzte Globus bildete in seinen Dimensionen und in der tastgerechten Ausarbeitung des Oberflächenreliefs eine, wie Dorner feststellt, sehr glückliche Lösung. Er diente als Vorbild für die von Blindenoberlehrer Hildebrand für die Serienfertigung entwickelten und weit verbreiteten Globen.

Nicht nur seine Rechentafeln und Zeichengeräte und die zahlreichen anderen Hilfsmittel, sondern vor allem ein Holzbaukasten, bei welchem die mit Bohrungen versehenen Bausteine mit Hilfe von kleinen Metallhülsen als Steckverbindungen fixiert werden konnten, machten ihn und sein Institut weit über Nürnberg hinaus bekannt. Mit diesen Baukästen konnten die Schüler Modelle und Häuser nachbauen ohne befürchten zu müssen, dass die Bauwerke unter der tastenden Hand zusammenfielen. Für die 1906 in Nürnberg veranstaltete Bayerische Landesausstellung haben besonders geschickte Schüler berühmte nürnberger Bauwerke nachgebaut. Wer denkt hier nicht an Legoland und die bei allen Kindern so beliebten Legobaukästen?

Damit die Schüler die benötigten Schulbücher in Blindenschrift erhalten konnten, wurde allen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zum Trotz eine eigene Blindenschriftdruckerei eingerichtet. Diese bestand bis zum Jahr 1945. Standardwerke der deutschen Dichtung wurden hier in Punktschrift übertragen, Lehr- und Lernbücher und Punktschriftnoten wurden nicht nur für den Gebrauch an der eigenen Schule von blinden Druckern punziert, sondern auch an zahlreiche auswärtige Blindenschulen und an interessierte Blinde verkauft.

Nicht nur die geistige Entwicklung, sondern auch das körperliche Wohlbefinden und die Gesundheit seiner Zöglinge war Karl Schleussner ein Anliegen. Das Turnen gehörte deshalb zum Schulalltag.

Die Fortbildungsschule wurde ebenfalls ausgebaut. Neben Deutsch umfasste der Lehrplan kaufmännisches Rechnen und Blindenstenographie. Die hauswirtschaftliche Ausbildung für Mädchen wurde zur Selbstverständlichkeit. Die Rehabilitation Späterblindeter nahm mit dem Angebot von Blindenschriftlehrgängen ihren Anfang. Als der Einsatz von Giftgas im Ersten Weltkrieg (1914 – 1918) viele Erblindungen verursachte, musste die Ausbildung und Umschulung erblindeter Kriegsteilnehmer auf- und ausgebaut werden. Bis 1919 konnten 161 Kriegsblinde einem neuen Beruf zugeführt werden. Neu war die Ausbildung von Schreibkräften für Tätigkeiten im Büro.

Die Anregung von Kriegsblinden, eine Blindenbücherei zu gründen, nahm Schleussner gerne auf. Im Juni 1918 fand eine erste Besprechung mit maßgebenden Förderern statt. Die Punktschriftbibliothek wurde als „Kriegsblindenbücherei“ gegründet, weil Schleussner auf diese Weise die notwendigen finanziellen Mittel, die er für Zivilblinde nicht bekommen hätte, erlangen konnte. Sein Sinn für praktische Lösungen und sein Weitblick haben sich, wie so oft, bewährt. Die Blindenbibliothek wurde gemeinsam Mit der „Nürnberger Volksbücherei“ ins Leben gerufen. Die Bücher wurden in mühsamer Handarbeit hergestellt. Freiwillige Helfer diktierten die Texte den Blinden, welche sie von Hand mit Hilfe einer Schreibtafel oder einer Blindenschriftmaschine zu Papier brachten. Punkt 1 der Leseordnung besagte: Die Blindenbücherei ist in erster Linie für Kriegsblinde in den Städten Nürnberg und Fürth bestimmt. Ihre Benutzung ist allen Blinden Bayerns im Alter von mehr als 14 Jahren gestattet. Tatsächlich gehörten zu den Nutzern dieser gut ausgestatteten "Süddeutschen Blindenbücherei der Blindenanstalt Nürnberg" (heute "Bayerische Blindenbücherei") später Leser aus dem gesamten deutschen Sprachraum.

Karl Schleussner stellte sich mit seinen Mitarbeitern jederzeit allen Herausforderungen. Aber die vor allem durch den Ersten Weltkrieg gestellten unerhörten Anforderungen und der mit dem Kriegsende verbundene gesellschaftliche und politische Wandel zehrten in einem nicht mehr zu ertragenden Maß an seinen Kräften. Als die Gesellschaftsordnung, in der er verwurzelt war, die Monarchie, zusammenbrach, konnte er das nicht verwinden. Karl Schleussner nahm sich am 9. Dezember 1918 das Leben. Das „Evangelische Gemeindeblatt Nürnberg“ vom 19.1.1919 berichtet nach einem ausführlichen Lebenslauf Schleussners u.a.: „Kurz, die Widerstandskraft des rastlos tätigen Mannes war stark zermürbt und schließlich überraschend schnell aufgezehrt. Als nun gar noch die stärksten seelischen Erschütterungen in Gestalt von bittersten Enttäuschungen und unglaublicher Verkennung auf ihn einstürmten, da brach seine Lebenskraft jählings zusammen. Den Armen verfolgte der unerträgliche Gedanke, sein Lebenswerk sei zerstört. Wir aber, die wir den seltenen Mann den unseren nennen durften und ins Herz geschlossen haben, werden seiner nimmermehr vergessen, sondern dankbar allezeit sein Andenken hochhalten und von Herzen segnen.“

Was war geschehen? Überall entstanden nach Kriegsende „Soldaten- und Bauernräte“ und rissen die Macht an sich. In der Nürnberger Blindenanstalt gründete sich analog ein „Blindenrat“. Dieser wollte die Anstalt in Besitz und fortan selbst die Leitung übernehmen und Karl Schleussner aus seinem Amt drängen. Er hatte Schleussner schlimme Verfehlungen und Unterschlagungen vorgeworfen und ihn in übelster Weise in der Öffentlichkeit verleumdet. Es herrschte Aufruhr im Haus. Der kurze Spuk dieses Blindenrates, verschwand so schnell, wie er gekommen war, und alle Vorwürfe waren - wie eine hochnotpeinliche Untersuchung ergab - haltlos. Direktor Schleussner schied vorher - am 9. Dezember 1918 nach fast 35jähriger segensreicher Tätigkeit zum Wohle blinder Menschen freiwillig aus dem Leben. Bewunderung und Erschütterung emfpinden wir, wenn wir diesen Lebensweg betrachten.

Seine Ideen und sein Wirken blieben weit über seinen Tod hinaus fruchtbar. Die Blindenanstalt Nürnberg blieb weiterhin führend bei der Entwicklung von Lehr- und Hilfsmitteln, bei der Erschließung neuer Berufsmöglichkeiten für Blinde und bei der Umschulung Späterblindeter. Dem Lehrkörper gehörten und gehören auch nach Schleussner immer wieder hervorragende blinde Pädagogen an.


Quelle: 200 Jahre Blindenbildung in Deutschland (1806-2006),
edition Bentheim, 2006, Würzburg

  

    

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