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Betty Hirsch

     

Dr. Hans-Eugen Schulze
   

Betty Hirsch
1873-1957

Mutter der kriegs- und zivilblinden Industriearbeiter und Büroangestellten
  


  
Vorbemerkung: Ich stütze mich im wesentlichen auf die bisher leider nur auszugsweise in "Blind - Sehbehindert" 1989 S. 34, 67, 164 und 225 veröffentlichte Diplomarbeit von Christine Pluhar "Betty Hirsch, Lebensweg einer blinden Frau". Wo ich Betty Hirsch wörtlich zitiere, handelt es sich um ihre in den letzten Lebensjahren geschriebenen Erinnerungen, soweit Pluhar sie in ihrer Arbeit anführt.
  

Am 15.01.1873 als achtes Kind dänisch-jüdischer Eltern in Hamburg geboren, wuchs Betty Hirsch zweisprachig auf, dänisch im Elternhaus und deutsch in der Schule. Im Jahre 1885 fiel sie von einem Stuhl, auf dem sie hochaufgereckt stand, aufs Gesicht. Danach erblindete sie allmählich. Nach dem Sturz ging sie zunächst nicht mehr zur Schule, sondern reiste zu berühmten Augenärzten. Sie schreibt über diese Zeit: "Der Zustand, in dem ich mich befand, war so ungewöhnlich in jeder Beziehung, was Körper und Geist betraf, dass meine frühere Sorglosigkeit völlig verschwand, mein Wesen sich sehr zu meinem Nachteil veränderte. Als man aber anfing, mir mit jeder geringen alltäglichen Arbeit wie Anziehen und sonstigen Handgriffen helfen zu wollen, erwachte ein Wille von Selbständigkeit in mir, der mir half, mein späteres Schicksal mit Würde zu tragen und vielen anderen Menschen zu helfen, Schwierigkeiten zu Gelegenheiten umzugestalten. Ich habe oft meine Lieben verletzt, wenn ich ihre Hilfe grob ablehnte. Aber es war kein Egoismus, sondern das Bewusstsein, niemanden für mich zu bemühen und kein Opfer anzunehmen".
   

Da ihre Mutter - ihr Vater war bereits 1881 verstorben - unter ihrem Zustand litt, entschloss sie sich im Herbst 1892 fortzugehen, und zwar möglichst weit. Es gelang ihr, ab dem 01.04.1893 einen Platz im Frauenheim der Blindenanstalt Steglitz zu erhalten. Sie erlernte sehr schnell die Blindenschrift, nahm in der Fortbildungsklasse am Unterricht in Literatur, Kunstgeschichte, Englisch, Handarbeit, Chorgesang, Klavier, Geige, Sologesang, Musiktheorie und Notenschrift teil und erlernte in den Werkstätten das Stuhl- und Korbflechten.
   

Über das erste Jahr und ihre anschließenden Osterferien zu Hause schreibt sie: "Wenn ich auch praktisch nur Schriften und Handwerk in diesem ersten Jahr gelernt hatte, so waren mir doch geistige Kreise erschlossen worden, die mir bis dahin fremd gewesen waren, und mir ein weiterer Einblick in Menschen und Welt eröffnet... Es war wohl schon damals, als ein Kampf in mir erwachte, der sich immer steigerte, je mehr ich von Welt und Menschen im persönlichen Verkehr erfuhr. Zu Hause ließ ich nichts davon merken, erkannte aber, dass ich mich nie an ein Leben gewöhnen würde, das nichts weiter von mir fordert, als mich wohl und zufrieden zu fühlen, wie meine Lieben es sehen möchten".
   

Die Zeit in Steglitz muss sie für den Umgang mit anderen Menschen stark geprägt haben. Über das Verhältnis zu ihren Mitschülern schreibt sie jedenfalls: "Die vielen Blinden, die mich umgaben, sah ich immer als meinesgleichen an und glaubte, sie seien alle aus der gleichen Gesellschaftsklasse wie ich. Und so verschaffte ich mir unbewusst viele Freunde dort. Mit der Zeit fand ich heraus, dass besonders die Blindgeborenen oder sehr früh Erblindeten, die auch meist aus ganz armen ungebildeten Kreisen stammten, durch Erziehung und Herkunft sehr verschieden waren - wenn auch nicht in schlechtem Sinne - von denen, die in der Außenwelt lebten... Ich glaube, es erwachte schon früh ein soziales Gefühl in mir, das mich durch mein zukünftiges Leben begleitet hat".

Durch eine ihrer Schwestern, die in Eberswalde, also nahe bei Berlin, arbeitete, gelangte sie andererseits zu ihrem ersten Freundeskreis unter Sehenden, wie übrigens auch zu den ersten Bewunderern ihres Gesangs.
  

Ab dem Frühjahr 1897 wollte niemand mehr die Kosten für den Aufenthalt in Steglitz tragen und wollte sie selbst auch endlich berufstätig werden. Monate vorher hatte sie deshalb begonnen, Schülerinnen in Punktschrift zu unterrichten, und hatte das Handalphabet der Taubblinden geübt. Der Anstaltsdirektor Wulff hatte ihr alles das gestattet, weil der Gründer der Samariteranstalten Fürstenwalde an der Spree sich mit der Bitte an ihn gewandt hatte, ihm für die Filialanstalt Bethanien in Ketschendorf, Anstalt für schwachsinnige Blinde, schwachsinnige Taubstumme und Taubstummblinde, eine Lehrerin zu vermitteln, und weil Wulff für Betty Hirsch eine Chance darin gesehen hatte. In Ketschendorf kam sie indes in ganz unzulängliche Verhältnisse, denen sie außerdem mangels pädagogischer Vorbildung nicht gewachsen sein konnte. Nach nur zwei Monaten, am 01.07.1897, musste sie deshalb aufgeben. Das war für sie ein schwerer Schock. Von ihm erholte sie sich allmählich in der Hamburger Blindenanstalt, in der das Leben damals sehr viel freier war als in Steglitz.
  

Danach studierte sie in Berlin Gesang und gab einem blinden Mädchen, das nicht in die Blindenanstalt gehen sollte, Privatunterricht. Sehende unterrichtete sie in Deutsch (Ausländer) und Gesang. Sie engagierte sich im Kampf gegen betrügerische Konzertveranstalter, die selbst viel verdienten, aber den Blinden nur geringe Gage zahlten oder gar vor Konzertende mit der Einnahme verschwanden. Sie lernte einen sehenden Pianisten kennen, mit dem zusammen sie zunächst viel übte und später auch konzertierte. "Unsere Programme wichen nie von der höchsten Klassik ab, in der wir beide einig waren und lebten".
  

Als Konzertsängerin konnte Sie offenbar überall Erfolge feiern. Am wichtigsten war ihr dabei, dass sie nicht als "blinde Sängerin" galt, sondern als Künstlerin. Sie gab aber auch noch Privatunterricht.
  

Weil ihr Begleiter sehr ungewandt war, musste sie allein alle Konzerte organisieren. Das überforderte sie und führte im Jahre 1907 zu ihrem gesundheitlichen Zusammenbruch und tiefen Depressionen. Nach einem längeren Sanatoriumsaufenthalt entschloss sie sich, in England Deutsch und Dänisch zu unterrichten und dabei die englische Sprache zu studieren. Dazu erhielt sie von der Hamburgischen Schulbehörde ein Stipendium. Im Frühjahr 1908 fuhr sie nach London. Dort suchte sie Kontakt zu möglichst vielen Menschen, um Konversation zu treiben. Dazu wechselte sie oft ihre Unterkunft, kam auf diese Weise auch an andere Orte und lernte Menschen aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten kennen, hörte auch die verschiedensten Dialekte und Ausdrucksweisen und machte sich mit den Sitten und Gebräuchen des Landes vertraut. Ihre Kontaktfreudigkeit und ihre Fähigkeit, sich den jeweiligen Umständen anzupassen, muss für eine Blinde außergewöhnlich groß gewesen sein.
  

Im August 1909 kehrte sie nach Berlin zurück und fand - singen wollte sie nicht mehr - genügend Sprachschüler, um davon leben zu können. Dabei wurde ihr aber klar, dass sie eigentlich ein Examen müsste nachweisen können. Also lernte sie auch dafür und legte in Hamburg eine Sprachlehrerinnenprüfung ab.
  

Zurück in Berlin, "nahm ich mit doppeltem Eifer meinen, von nun an von Amts wegen bestätigten Beruf als Englischlehrerin wieder auf. Mein Hauptamt war aber immer noch der Unterricht von blinden Privatschülern".

Im Juli/August 1914 belegte Betty Hirsch Sprachkurse in England. Nach Kriegsausbruch konnte sie noch nach Birmingham fahren, um dort ein "Optophon" kennenzulernen, eine in England erfundene Lesemaschine für Blinde. Dann musste sie als feindliche Ausländerin das Land verlassen.
  

Während der Rückreise am 16.09.1914 hörte sie im Zuge zum erstenmal das Wort "kriegsblind". "Dabei kam mir sofort der Gedanke, wenn ich glücklich in der Heimat angelangt wäre, die Kriegsblinden aufzusuchen, um ihnen ihren ersten Schmerz über ihre Erblindung überwinden zu helfen". Zunächst fand sie jedoch niemanden, bis sie Mitte November zufällig hörte, dass sich Kriegsblinde in einem Berliner Lazarett in der Obhut von Geheimrat Prof. Dr. Paul Silex befanden, eines Augenarztes, der großes Ansehen genoss. Ihn suchte sie auf und kommentiert: "Gleich bei meinem ersten Besuch ergab sich eine wunderbare Übereinstimmung unserer Gedanken über die Behandlung der Kriegsblinden". Sie gewann Silex dafür, den Kriegsblinden nicht nur medizinisch zu helfen, sondern ihnen auch Blindenschrift, normales Maschinenschreiben und einige Handfertigkeiten beizubringen. Schon am 22.11.1914 nahm sie ehrenamtlich den Unterricht auf. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie weiterhin durch Privatunterricht.
  

Welchen Anteil Sie an der eigentlichen Schulgründung hatte, lässt sich schwer sagen. Sie hatte aber jedenfalls die Idee, die Kriegsblinden zu unterrichten, ohne sie in Blindenanstalten zu schicken, in deren Heimordnungen sie sich erfahrungsgemäß nur schwer hätten fügen können, und ihnen außerdem individualisierten Unterricht zu erteilen, jedem nach seinem gesundheitlichen Allgemeinzustand, seinen Fähigkeiten, Vorkenntnissen, Interessen und Bedürfnissen. Silex dagegen hatte, was sie brauchte, um ihre Ideen umzusetzen: Ansehen, die Stellung des leitenden Lazarettarztes, persönliches Vermögen und die Beziehungen, Spenden zu werben. Rückschauend schreibt sie: "Es war mir täglich klarer, dass diese Arbeit meine eigentliche Aufgabe im Leben war, bei der ich nicht nur anderen Menschen helfen, sondern für alle Blinden einen sozialen Fortschritt schaffen konnte. Also war ich von der Konzertsängerin und der Sprachlehrerin zur Reformerin der deutschen Blindenbildung geworden. Aber nichts von dem, was ich gelernt hatte, war vergeblich gewesen; denn nur die vielen Erfahrungen auf dem Gebiet der Musik wie im manuellen Wirken machte es möglich, mit den verschiedensten Männern aus allen Klassen der Gesellschaft so zu verkehren, wie es nötig war, um sie in ein neues Leben einzuführen".
  

Alsbald stellte sich die Frage nach Arbeitsmöglichkeiten. Auslöser war ein früherer Schlosser, der, wie er Betty Hirsch sagte, "wieder auf Eisen schlagen" wollte. Sie nahm sich vor, für ihn und die anderen einen Weg zu finden. Seit längerer Zeit hatte sie die blinde Tochter eines Majors unterrichtet, der die Spandauer Munitionswerke leitete. Er ermöglichte ihr, in dem Betrieb selbst zu probieren, welche Arbeiten Blinde verrichten könnten. "Der Erfolg wirkte so schlagend", schreibt sie, "dass man mich von einer Abteilung zur anderen führte, und überall waren ein oder mehrere Prozesse zu finden, die ein Blinder so gut wie ein Sehender verrichten konnte. Am nächsten Tage wanderten fünf unserer Männer zum Bahnhof, fuhren nach Spandau und kamen als glückliche vollwertige Arbeiter abends mit ihrem Arbeitslohn als Blinde unter Sehenden zurück". Später waren es bis zu hundert.
  

Als sich Anfang 1916 die Zahl der Kriegsblinden täglich mehrte, bat Prof. Silex auch Privatfirmen, Blinde zu beschäftigen.
  

Betty Hirsch und Silex hatten vor der Notwendigkeit gestanden, auch Offiziere, Beamte, Lehrer, Studenten und Kaufleute auszubilden. Wie Betty Hirsch wusste, wurden im angloamerikanischen Raum Blinde als Korrespondenten tätig, und Telefonisten hatte es in Deutschland schon vorher gegeben. So wurden Kriegsblinde also auch zu Bürofachkräften ausgebildet.
  

Im Laufe der Zeit musste Betty Hirsch den Privatunterricht ganz aufgeben, um die Schule zu leiten sowie Berufsberatung, Stellensuche und nachgehende Fürsorge zu treiben. Dazu wurde sie schließlich Anfang 1918 fest angestellt.
  

Die Schule gelangte zu großem Ansehen. "Der Kreis aber", schreibt Betty Hirsch, "zu dem ich eigentlich gehörte, was meine Arbeit und meine Ziele betraf, blieb mir bis auf wenige Experten fern; denn die sehenden Blindenlehrer sahen in mir eine Opposition, die in Friedenszeiten nie Erfolg gehabt hätte".
  

Bis Kriegsende bildete die Schule 250 Kriegsblinde aus.
  

Nach Kriegsende waren, da die Zahl der Blinden weiter wuchs, die neuen Behörden eifrig bemüht, die Schule zu erhalten, obwohl nach ihrem Vorbild schon in mehreren Provinzen gleiche Schulen gegründet worden waren.

Ab 1920 nahm die Schule auch Zivilblinde auf. Obwohl Geheimrat Silex im Frühjahr 1923 die Arbeit in ihr niederlegte, gelang es Betty Hirsch immer wieder, einflussreiche Persönlichkeiten für die Arbeit zu interessieren und damit weiterhin genügend Spenden zur Abdeckung der Sachkosten zu werben, während die Personalkosten schließlich vom Magistrat der Stadt Berlin übernommen wurden.
  

Inhaltlich beschränkte sich die Schule seit der Revolution vorwiegend auf den Bereich der Büroberufe.

Am 01.04.1926 stellte die Schule Karlheinz Tschepke, einen ehemaligen zivilblinden Schüler, als Lehrer ein und beauftragte ihn, eine kaufmännische Stenographie zu entwickeln, was mit viel Erfolg geschah.
  

Ein mit Betty Hirsch befreundeter amerikanischer Journalist organisierte ihr im Jahre 1927 eine Reise in die USA. In Cleveland besuchte sie eine Schule, in der blinde Kinder zusammen mit sehenden unterrichtet wurden. Das war für sie ein nachhaltiges Erlebnis und veranlasste sie, später in Deutschland immer wieder darüber zu berichten und für die integrierte Beschulung zu werben - zum großen Unverständnis der damaligen Blindenpädagogen (vgl. den Nachruf auf sie von Bergmann im "Blindenfreund" 1958, 195 ff.). In Washington wurde sie vom amerikanischen Präsidenten empfangen und verbrachte einen ganzen Tag mit Helen Keller in deren Haus.
  

Im Herbst 1928 besuchte sie auch Einrichtungen des englischen Blindenwesens. Sie lernte dabei die Fortschritte kennen, die die Entwicklung des "Optophons" seit 1914 gemacht hatte, und bekam sogar zwei Geräte mit nach Deutschland. Aber selbst eine gute Versuchsperson las nur vier Wörter pro Minute damit, so dass die Maschine so gut wie unbekannt blieb.
  

Bei der "Machtübernahme" am 30.01.1933 lag Betty Hirsch krank zu Bett. Sie sagte sich, "dass ich ja nun Zeit habe, um zu überlegen, was ich für die Schule zu tun hätte, und nachher, was ich für mich noch tun könnte. Nach einigen Tagen des unruhigen Überlegens hatte ich meinen Entschluss gefasst, den ich auch ausführte... Da ich dem Magistrat mitgeteilt hatte, dass ich Ende September die Schule abgeben würde, ging ich Mitte März wieder an die Arbeit. Ich nahm mir fest vor, bis Ende September auszuhalten, was auch immer geschehen würde. Die Sicherheit, mit der ich auftrat, musste die 25 Schüler wohl beeinflussen; denn bis zum letzten Tage ging alles reibungslos vor sich... Aber der 1. April 1933 machte mich doch etwas unsicher, wenigstens innerlich. Ich wohnte im Hinterhaus, und im Vorderhaus waren schon die dort wohnenden Juden abgeholt worden. An mein Namensschild hatte man ein Hakenkreuz gemalt, und auf meinem Fenstersims lag von außen eine kleine Fahne mit einem Kreuz... Als mein Entschluss feststand, nach England zu gehen, wo ich einige Verbindungen hatte, wurde ich wieder vollkommen ruhig. Meine Wohnung musste ich bis zum 01.04.1934 halten. Meine Einrichtung verschenkte ich an Lehrer und Freunde. Ich gab mir Mühe, die Wohnung zu vermieten, was auch gelang, so dass ich mit ruhigem Gewissen und ohne Schulden Berlin verlassen konnte. Um kein Aufsehen zu machen, verbat ich mir jegliche Begleitung zum Lehrter Bahnhof, von wo ich zum letztenmal nach Hamburg abfuhr." Das war im Oktober 1933.
  

Das wichtigste war vorher für sie gewesen, die Schule zu retten. Sie hatte Dr. Thiermann, ihren früheren Privatsekretär, zu ihrem Nachfolger ausersehen und versuchte nun, die Übernahme der Schule durch die Stadt Berlin zu erreichen, was ihr auch gelang. Mit der Übernahme durch die Stadt erhielt die Schule den Namen "Silexhandelsschule für Blinde".
  

In Hamburg lebten noch zwei Schwestern von Betty Hirsch. Aber nur ihr selbst gelang die Emigration. Die anderen kamen im Konzentrationslager um.
  

Am 25.01.1935 wurde Betty Hirsch in England erlaubt, eine Anstellung zu suchen.
  

Am 19.09.1939 wurde in ihrem Pass eingetragen, dass sie Lehrerin für Deutsch und Dänisch sei und Übersetzungen mache. Am 03.11.1939 wurde außerdem darin vermerkt, sie sei Flüchtling vor der Naziunterdrückung und werde deshalb von der Internierung feindlicher Ausländer ausgenommen.
  

Während der ersten Jahre ihres Englandaufenthalts muss sie noch mit der "Selbsthilfevereinigung der jüdischen Blinden in Deutschland" in Verbindung gestanden haben; denn in deren Jahrbüchern 1936/37 (S. 60) und 1938/39 (S. 89) wurden Artikel von ihr veröffentlicht.
  

Am 12.11.1946 erhielt Betty Hirsch einen Ausweis, dessen Passbild, wie Pluhar schreibt, "die Not und Entbehrung der letzten Jahre in ihrem Gesicht deutlich erkennen lässt". Im Januar 1947 kehrte sie in der Hoffnung, ihre Schule wieder übernehmen zu können, nach Berlin zurück, wo sie die letzten zehn Jahre ihres Lebens verbrachte.
  

Die Schule hatte sich zunächst zu einer ordentlichen Handelsschule entwickelt, die staatlich anerkannte Zeugnisse ausgab. Nach Kriegsbeginn hatte sie aber wieder die Umschulung erblindeter Soldaten übernommen und war erneut mit einem Lazarett verbunden worden. Bei Kriegsende befand sie sich nicht mehr in Berlin, sondern teils in Bayern, teils in Thüringen. Im Frühjahr 1947 war die Schulbehörde geneigt, den früheren Zustand wiederherzustellen. Am 7.5. wurde Betty Hirsch vom Magistrat ermächtigt, die Rückverlegung vorzubereiten. Ihr Wunsch wäre es gewesen, die Schule in Westberlin in der Weise einzurichten, dass nach dem amerikanischen Vorbild die Blinden mit Sehenden zusammen ausgebildet würden. Ihre Bemühungen scheiterten jedoch: Am 1.4.1949 zog die Silexhandelsschule in die Gebäude der Steglitzer Blindenbildungsanstalt um und wurde ihr auch administrativ unterstellt. Damit war der Kampf um die Schule für Betty Hirsch verloren. Sie nahm wieder Privatschüler an, jetzt aber nicht mehr gegen Honorar, sondern ehrenamtlich, und schrieb Artikel.
  

Aus Anlass ihres achtzigsten Geburtstages am 15.01.1953 wurden ihr viele Ehrungen zuteil. Insbesondere verlieh der Bund der Kriegsblinden (und drei Jahre später auch der Deutsche Blindenverband) ihr die Ehrenmitgliedschaft.
  

Am Neujahrstag 1956 schrieb sie von einer früheren Rundfunksendung, in ihr seien gerade diejenigen zwei Berufe (des Industriearbeiters und des Büroangestellten) geschildert, "die sich zu meiner Freude trotz allem Widerstand völlig durchgesetzt haben und nun Tausende von Blinden ernähren. Das ist der konkrete Erfolg meiner Lebensarbeit, den ich gern noch auf viele andere Wege gebracht hätte, aber zukünftigen Blinden hinterlassen muss."
  

Am 08.03.1957 starb Betty Hirsch in einem Berliner Krankenhaus an Altersschwäche. Ihre Urne wurde am 20.03. beigesetzt. Am 08.05.1961 wurde das "Kriegsblindenhaus Betty Hirsch" in der Handjerystr. 23 in Berlin seiner Bestimmung übergeben. Aber 1977 wurde ihre Urnengrabstelle neu besetzt, da es niemanden gab - oder vielleicht nur niemand daran gedacht hatte -, ihr Grab zu erneuern und es zum Ehrengrab erheben zu lassen. Möge dieser Bericht dazu beitragen, die Erinnerung an sie trotzdem lebendig zu halten.
  

Quelle: Zusammenfassung eines Vortrages, gehalten beim Seminar der Fachgruppe "Ruhestand" des DVBS.

  


 

   

Sieglind Ellger-Rüttgardt
  

 

Betty Hirsch (1873-1957)
  



    

1. Kindheit in Hamburg und das Ereignis der Erblindung

Betty Hirsch wurde am 15. Januar 1873 in Hamburg geboren. Beide Eltern stammten aus Dänemark. Bettys Vater gehörte zur Gruppe der orthodoxen Juden. Er kümmerte sich nur um die Erziehung der beiden Söhne, die streng religiös erzogen wurden. Die Erziehung der Mädchen besorgte in erster Linie die Mutter, die ausgleichend wirkte zu der strengen orthodoxen Erziehung des Vaters.
  

Die acht Kinder wuchsen zweisprachig auf. Deutsch sprachen sie mit den Dienstboten und in der Schule, Dänisch zu Hause. Als Betty geboren wurde, besuchten die Brüder bereits das Gymnasium, die Schwestern hingegen die Höhere Töchterschule. Für die Familie brachte der Tod des Vaters im Jahre 1881 wirtschaftliche Probleme mit sich, da durch die Aufgabe der Firma erhebliche Einschränkungen erforderlich wurden. Die beiden Brüder kamen in die kaufmännische Lehre zu Verwandten nach Dänemark und England; die beiden großen Schwestern heirateten. Aus der Sicht der damaligen Verhältnisse war es sehr ungewöhnlich, dass jetzt nur noch die vier „Kleinen“ im Haus waren und nur noch ein Dienstmädchen gehalten wurde.
  

In der Schule zeigte Betty im Gegensatz zu ihren Geschwistern, die alle als Primus durch die Klassen gingen, eher mittelmäßige Leistungen, da sie wenig Ehrgeiz hatte. Sie zeichnete sich nur im Turnen, Deklamieren und Singen aus.
  

Im Alter von zwölf Jahren verunglückte Betty beim Schaukeln im Garten und erlitt eine Verletzung, die schließlich zu ihrer vollständigen Erblindung führen sollte. Über ihre langsame Erblindung schreibt Betty: „Der Zustand, in dem ich mich befand, war so ungewöhnlich ... , dass eine frühere Sorglosigkeit völlig verschwand und mein Wesen sich sehr zu meinem Nachteil veränderte. Die körperlichen Schmerzen machten mich verdrießlich und abstoßend, die Tatenlosigkeit mutlos und unempfindlich für die Bemühungen meiner Angehörigen, mir irgendwelche Freude zu machen.
  

Als man aber anfing, mir mit jeder geringen alltäglichen Arbeit wie anziehen und sonstige Handgriffe helfen zu wollen, erwachte ein Wille von Selbständigkeit in mir, der mir half, mein späteres Schicksal mit Würde zu tragen und vielen anderen Menschen zu helfen, Schwierigkeiten zu Gelegenheiten umzugestalten. Ich habe oft meine Lieben verletzt, wenn ich ihre Hilfe grob ablehnte, aber es war kein Egoismus, sondern das Bewusstsein, niemanden für mich zu bemühen und keine Opfer anzunehmen. Das Urteil der Anderen war natürlich ‘Eigensinn’, aber oft habe ich in späteren Zeiten diesen Eigensinn gesegnet, der mir so viel geholfen hat. Dieses Ziel, Selbständigkeit, ließ mich erkennen, dass der Weg dahin nur von mir selbst zu finden sei, und ich fing an, mein Zimmer selbst zu reinigen, meine Schuhe selbst zu putzen, meinen Schrank in Ordnung zu halten und vor allem meine Handarbeitsgeschenke für die Geburtstage in der Familie anzufertigen, besonders durch nützliche Häkelarbeiten aller Art, wie meterlange Spitzen für Gardinen und Schürzen. ...Da die Arbeit mich von meinen trüben Gedanken abzog, wurde ich auch geneigter geistigen Abwechselungen gegenüber. Ich spielte vierhändig mit meiner Mutter, die mir geduldig meine Stimme diktierte, da ich meine Augen nicht benutzen durfte und auch immer mehr und mehr die Sehkraft verloren“ (167 f.) 1
  

1891 konsultierte Betty Prof. Deutschmann, einen gerade nach Hamburg gekommenen Spezialisten, der Betty nach einiger Zeit operierte. Jedoch die Operation misslang und Betty erblindete vollständig. Alle Aufmunterungsversuche der Familie halfen nichts. Betty war unausgeglichen und gereizt, sie ärgerte sich über alles. Sie wollte der Familie keine Extrakosten verursachen, und das machte sie noch unliebenswürdiger.
  

1892 brach in Hamburg die Cholera aus, Tausende starben, die Familie jedoch blieb von der Krankheit verschont. Dennoch waren die folgenden zwei Jahre die traurigsten für Betty. „So sehr ich auch mit Liebe umgeben war, so tief allein fühlte ich mich, aber ich wagte noch immer nicht, vor mir selbst mein eigenes Urteil zu fällen. Ich war auch viel zu unreif, denn ich hatte mich ja immer nach dem zu richten, was mir vorgeschrieben war, um das Ziel der Ärzte zu verfolgen. Die aber dachten nur an meine Augen und nicht an den Menschen in mir. Hin- und hergerissen lebte ich von einem Tag zum anderen, ohne zu denken oder zu wissen, wie und was aus meine Zukunft werden sollte“ (168).

Bettys Mutter litt sehr unter ihrem Zustand, und so beschloss Betty fortzugehen. In der Klinik von Prof. Deutschmann hatte sie von einer Schule für Blinde in Steglitz bei Berlin gehört. Sie bat ihren Onkel um finanzielle Unterstützung für einen Schulbesuch, der jedoch jede Hilfe verweigerte. Er würde Betty nie Mittel geben, da eine Tochter ins Haus und zur Familie gehöre. Trotzdem schaffte es Betty, die Blindenschule in Steglitz zu besuchen.
  

 

2. Schülerin in der Blindenanstalt Berlin-Steglitz und Berufswünsche

Im April 1893 wurden Betty und ihre Mutter im Büro von Direktor Wulff empfangen. Er sagte Betty für den nächsten Tag ein eigenes Zimmer im Mädchenheim zu und teilte ihr mit, an welchem Unterricht sie teilnehmen könne: In der Fortbildungsklasse an Literatur, Kunstgeschichte, Englisch und Handarbeit sowie Musik, darunter Chorgesang, Klavier-, Violinen- und Gesangsunterricht, Musiktheorie und Notenschrift. Stuhl- und Korbflechten könne sie in den Werkstätten erlernen. An den Andachten morgens und abends sowie den Gottesdiensten am Sonntag brauche sie selbstverständlich nicht teilzunehmen.
  

Am nächsten Tag konnte Betty ihr Zimmer beziehen, es war einfach eingerichtet, mit schlichten Möbeln, Bett, Tisch, Stuhl, Waschtisch, Kleider- und Geschirrschrank.
  

Bettys Tagesablauf gestaltete sich in den folgenden vier Jahren immer gleich: Morgens um sechs stand sie auf, machte ihr Zimmer sauber und frühstückte in der Küche. Um 7.00 Uhr begann der Unterricht, um 12.00 Uhr gab es Mittagessen, danach war eine Pause bis 14.00 Uhr. Es folgte wieder Unterricht bis 19.00 Uhr, anschließend war Feierabend. Die freien Stunden nutzte Betty zum Arbeiten in ihrem Zimmer. Ihr Tag war völlig ausgefüllt. In der Werkstatt lernte sie bald Körbe und Stühle flechten.
  

Was die Schule anbetraf, so stürzte sich Betty bildungshungrig nach sieben Jahren Abstinenz in den Unterricht. Sie hatte eine ungeheure Motivation und lernte in nur sechs Wochen „alle zu gebrauchenden Schriften“.
  

Besondere Leistungen zeigte Betty im Literaturunterricht bei Herrn Matthies, dem späteren Direktor der Steglitzer Anstalt, wodurch jener veranlasst wurde, einmal wöchentlich eine Extrastunde am Abend abzuhalten. Betty schreibt dazu: „Ihm habe ich die Vertiefung in geistige Werke zu verdanken, die mir bis dahin gefehlt hatte“ (169).
  

Bettys Verhältnis zu den Mitschülern lässt sich als offen, ja freundschaftlich bezeichnen. Sie sah die Blinden immer als ihresgleichen an und nahm an, sie würden aus der gleichen Gesellschaftsklasse stammen wie sie. Betty erkannte erst mit der Zeit, dass die meisten Blinden in der Anstalt aus ungebildeten Kreisen bzw. aus der Unterschicht stammten. Zum ersten Mal in ihrem Leben nahm Betty hier Gesellschaftsunterschiede wahr. Betty verarbeitete diese neue Erkenntnis für sich, indem sie feststellte: „Ich glaube, (es) erwachte schon früh ein soziales Fühlen in mir, dass mich durch mein zukünftiges Leben begleitet hat“ (169). Sie will Lehrerin werden.
  

Aber so einfach war das nicht. „Die Unterredung mit Wulff entmutigte mich vollkommen, denn er erklärte mir ganz offen, dass die Selbständigkeit ihrer Blinden sich nur auf Handwerke beschränkte, Bürsten-, Stühleflechten und Körbe. Sie stammten meist aus ganz armen Verhältnissen und freuten sich, in Heimen zu leben: aber für andere Berufe hätten sie keine Ausbildung und könnten deshalb auch keine Stellungen erhalten. Als ich auf den Lehrerberuf hinwies, sagte er, dass dieses auch nicht beabsichtigt sei“ (170).
  

Als blinde, jüdische Frau war Betty dreifach chancenlos: Frauen waren überhaupt erst seit wenigen Jahren zum Lehrerberuf zugelassen. Jüdischen Frauen wurde darüber hinaus der Zugang zum Beruf durch den wachsenden Antisemitismus erschwert. Und für blinde Frauen gab es eigentlich keine anderen Berufe als die für blinde Männer, nämlich die üblichen Handwerke wie Stühleflechten, Korbflechten, Stricken, ausgeführt in der Beschäftigungsanstalt unter der Leitung der Blindenanstaltsdirektoren.
  

Betty unternahm viel mit ihrer Schwester und deren Freundinnen, sie lernte dadurch bald neue Freunde kennen. Bei einem Besuch im Stammlokal der Eberswalder Freunde drängelten sie Betty zu singen. „Der Lehrer bot mir an, mich auf dem Klavier zu begleiten, und ich ließ mich erweichen und sang ein Volkslied. Rauschender Beifall und Bitten um mehr. Der Wirt kam mit einer frühen Blume aus dem Garten. Die starken, großen Arbeiter der Fabrik drängten sich um mich. Ich musste, obwohl ich wollte oder nicht, mehr Lieder singen. Alles andere war vergessen. So unbedeutend der kleine Vorgang auch war, so bedeutungsvoll war er für mich, denn ich wusste nun, dass ich nicht ganz der Welt der Sehenden verloren war. Und wenn es auch nur meistens ungebildete Menschen waren, die sich über meine einfachen Lieder freuten, so merkte ich doch, dass ich die Fühlung mit der Außenwelt trotz meiner Abgeschlossenheit in der Anstalt nicht verloren hatte“ (170).
  

Betty überlegte, ob sie Sängerin werden solle. „Auf keinen Fall wollte ich als Dilettantin auftreten, um aus meiner Blindheit ein Geschäft zu machen“. Die Jahre 1895 und 1896 vergingen mit intensiven Musikstudien in der Anstalt, vor allem in Klavier und Sologesang. Bereits 1895 fragte Direktor Wulff im Israelitischen Blindeninstitut Hohe Warte in Wien an, ob Betty dort nicht als Musikhilfslehrerin angestellt werden könnte, erhielt aber eine Absage.
  

1896 wendete sich Pastor Burgdorf, der eine „Abnormenanstalt“ in Fürstenwalde leitete, mit der Frage an Direktor Wulff, ob er jemanden wüsste, der taubblinde und schwachsinnige Zöglinge unterrichten wollte. Betty sollte diese Chance bekommen.
  

Am 1. Mai 1897 traf Betty in Fürstenwalde ein. Die erste Enttäuschung jedoch ließ nicht lange auf sich warten. Schnell merkte Betty, dass die Anstalt außerhalb in Ketschendorf lag, mitten auf dem Lande und völlig abgeschlossen von der Außenwelt. Betty hatte sich vorgestellt, einmal in der Woche nach Berlin fahren zu können, um dort am kulturellen Leben teilzunehmen. Betty wurde in der Anstalt zunächst provisorisch untergebracht, da das Haus für die Blinden noch nicht fertiggestellt war.
  

Nach kurzer Zeit erfuhr Betty die wahren Hintergründe dieser Anstalt. Pastor Burgdorf hatte im Grunde keine Ahnung von Blinden- und Taubstummenbildung, noch dazu keine Mittel, um seine geplante Einrichtung zu finanzieren. Er hatte eine schwedische Musteranstalt für doppelt behinderte Kinder gesehen und meinte nun, etwas Ähnliches schaffen zu sollen. Es gab weder eine Bleibe noch richtiges Material für den Unterricht. Mit etwas Material aus der Steglitzer Blindenanstalt begann Betty den Unterricht mit den Kindern in ihrem Zimmer, bis sie in das neue Schulhaus umziehen konnten. Lotte konnte schon etwas Punktschrift lesen, den beiden taubblinden Kindern brachte sie mit Hilfe des Handalphabets die Namen von Gegenständen sowie die ersten Anfänge der Punktschrift bei. Nach einer Weile kam die avisierte Taubstummenlehrerin, mit der sich Betty aber nicht gut verstand, da sie „sich gleich als mir überlegen aufspielte“ (171). Mit dieser Lehrerin zusammen stellte Betty einen Stundenplan auf. Zur gleichen Zeit konnte das versprochene Haus bezogen werden, und beide Lehrerinnen bekamen ein eigenes Klassenzimmer.
  

Gegen Ende ihrer zweimonatigen Probezeit, für die sie kein Gehalt bekam, kam es zu einer Aussprache zwischen Betty und Pastor Burgdorf, „dem ich erklärte, dass ich noch einen Versuch machen würde, wenn er mir die Mittel geben könnte, die es ermöglichen, mir ab und zu einen freien Tag zu schaffen, an dem ich mir in Berlin eine geistige Erholung und dadurch neue Kraft holen könnte. Ich war ja wie gefangen und meine Nerven erledigt. Er meinte, er brauche auch keine geistige Erfrischung“. „So gab ich auf, mit blutendem Herzen“ (172).
  

Nach einem Erholungsurlaub an der Nordsee und einem halbjährigen Aufenthalt in der Hamburger Blindenanstalt fasste Betty neue Pläne. Sie wollte weiter Musik studieren. Ihren Unterhalt wollte sie selbst durch Privatstunden bestreiten, einen Studienplatz am Sternschen Konservatorium in Berlin bekam sie sehr schnell. Glücklich begann Betty den Unterricht. Mit ihren Kommilitoninnen verstand sie sich sehr gut, gemeinsam unternahmen sie sehr viel, besuchten Konzerte oder gaben Liederabende. Betty erlebte das erste Mal, dass sie mit dazugehörte. Endlich war sie selbst verantwortlich für das, was sie tat, niemand bevormundete sie mehr. Sie wurde akzeptiert, so wie sie war. „Alltags abends waren wir fast immer in Konzerten, entweder auf Freikarten oder Stehplätzen, wie es für Studierende üblich war. Kein philharmonisches Konzert wurde versäumt und Liederabende von allen Größen gehörten zu unserem täglichen Leben. Wenn ich an die ersten zwei Jahre zurückdenke, dann kann ich den drei Kommilitoninnen nicht dankbar genug sein, wie sie mich so selbstverständlich als ihres Gleichen in bezug auf unser Studium behandelten. Sie machten es ohne Überlegung möglich, mich zu allen Veranstaltungen abzuholen und nach Hause zu bringen. Auch die übrigen Studenten sahen in mir einen Mitstudenten und nichts anderes“ (172).
  

Bettys Lebensunterhalt war sehr bescheiden. Das Geld, das sie mit Privatstunden verdiente, reichte eben, um das teure Konservatorium, ihr Zimmer, die Noten und den Pianisten, der sie bei ihren Übungen begleitete, zu bezahlen. Als ihr Pianist keine Zeit mehr hatte, empfahl er ihr Armin, der ebenfalls Pianist war. Armin und Betty verliebten sich ineinander, beide verband eine lange, tiefe Freundschaft.
  

An ihrem 30. Geburtstag 1903 hatte Betty ihr Konzertdebüt in Hamburg. Der Saal war ausverkauft, die Kritiken sehr freundlich. Betty hatte es geschafft. Es folgten Konzerte in Hannover, Celle, Lübeck usw. Nebenbei lernte Betty Schreibmaschine schreiben und hatte mehrere Privatschüler. Das Verhältnis zu Armin wurde allerdings auf Dauer immer schwieriger. Seine Heiratsanträge lehnte sie ab. Die Organisation der Konzerte lag zunehmend auf Bettys Schultern. Zusammen mit den vielen Sprachstunden, die für den Unterhalt nötig waren, und der unzureichenden Ernährung war Betty bald mit allem überfordert. Es kam zu einem Nervenzusammenbruch. Während eines mehrmonatigen Krankenhausaufenthaltes rang sie sich durch, die Musik und Armin aufzugeben.
  

Im Frühjahr 1908 ging Betty nach England, um Sprachstudien zu betreiben. Finanziert wurde ihr Aufenthalt durch ein Stipendium der Hamburger Schulbehörde. Anfang August 1909 kehrte sie zurück, ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben.
  

In den folgenden vier Jahren gab Betty Privatunterricht, zunehmend auch Sprachunterricht bei erwachsenden Sehenden, was ihr viel Freude bereitete. In diesem Zusammenhang kam ihr die Idee, das Sprachlehrerinnenexamen abzulegen. Sie bereitete sich extern vor und bestand am 17. September 1913 die Prüfung als erste Blinde. Nun war sie geprüfte Sprachlehrerin und durfte theoretisch das Fach Englisch an mittleren und höheren Mädchenschulen unterrichten. Im Sommer 1914 nahm sie am Ferienkurs der Londoner Universität teil. Sie war in London, als am 1.8.1914 der Erste Weltkrieg ausbrach. Am 16. September 1914 auf ihrer Rückreise hörte sie zum ersten Mal das Wort „Kriegsblinder“. Sofort kam ihr die Idee, den Kriegsblinden zu helfen. Schon im Zug eröffnete sie eine kleine Sammlung unter den Mitreisenden. Von dem Geld kaufte sie später die erste Blindenuhr für einen Kriegsblinden.
 

 

3. Aufbau der Kriegsblindenschule in Berlin

In Hamburg angekommen, suchte Betty das Rote Kreuz auf, um zu erfahren, wo die Kriegsblinden seien. Sie „wurde aber mit der Bemerkung abgewiesen, dass noch keine Kriegsblinden eingeliefert seien“ (174). Erst Mitte November hörte sie zufällig, dass im Vereinslazarett St. Maria-Viktoria-Heilstätten in Berlin sich fünf Kriegsblinde unter der Obhut des Geheimrats Prof. Dr. Paul Silex befanden. Geheimrat Silex war der damals berühmteste deutsche Augenarzt. In der Karl-Straße im Maria-Viktoria-Krankenhaus hatte er seine Privatklinik „und auf der anderen Seite der Straße seine Poliklinik, in der jeder umsonst behandelt wurde“ (174).
  

Betty suchte Geheimrat Silex in seiner Klinik auf. „Gleich bei meinem ersten Besuch ergab sich eine wunderbare Übereinstimmung unserer Gedanken über die Behandlung der Kriegsblinden“ (174). Sie überzeugte ihn, dass sie die Kriegsblinden unterrichten durfte.
  

Am 22. November 1914 wurde die Kriegsblindenschule gegründet. An diesem Tag nahm Betty den Unterricht mit fünf Kriegsblinden auf. Sie erteilte den Unterricht ehrenamtlich und ernährte sich derweil von Privatstunden. Die Kriegsblindenschule war eine Privateinrichtung, die sich jahrelang aus Spenden finanzierte. Der Name des Geheimrat Silex war in Berlin so bekannt, dass die Spenden reichlich flossen.
  

Wie der Unterricht begann, beschreibt Betty selbst: „Fünf Kriegsblinde in Lazarettjacken mit verbundenen Augen saßen um einen Tisch im Wohnzimmer der Schwestern, das uns zum Unterricht zur Verfügung gestellt war. Geheimrat Silex und die Oberin des Lazaretts führten mich hinein. Er zeigte mir die Gegenstände, die im Zimmer untergebracht waren, damit ich mich sogleich zurechtfinden könne, und dann verließen sie uns, um keine Schwäche oder Verlegenheitsgefühl bei den Kriegsblinden aufkommen zu lassen, das so leicht den Neuerblindeten dem Sehenden gegenüber beschleicht, wenn er seine ersten Versuche, sich in einer Sache zurechtzufinden, macht. Klopfenden Herzens reichte ich jedem einzelnen die Hand; ich wußte ja nicht, wie sie die Hilfe aufnehmen würden. Aber ermuntert durch den Mut ihres gleichfalls erblindeten Kameraden, eines Feldwebels, nahmen sie willig und freudig die gebotenen Lehren an. Fünf mittelgroße Punktschriftblätter, auf die in breiten Abständen die leicht fühlbarsten Punktschriftbuchstaben geschrieben waren, bildeten das ganze Lehrmaterial der ersten Unterrichtsstunde. Nach Verlauf dieser Stunde konnten die fünf Kriegsblinden zu ihrer Freude schon einige kleine Wörter mittels des Tastgefühls lesen. Ich verließ sie mit leichtem Herzen und voller Hoffnung für ihre Zukunft“ (175).
  

Von da an galt Bettys ganzes Leben nur der Schule, die mit der Einlieferung von immer mehr Kriegsblinden ständig wuchs. Sie erkannte, dass sie mit der Arbeit in der Schule ihre eigentliche Aufgabe im Leben gefunden hatte.

Alle eingelieferten Kriegsblinden wurden in Punktschrift unterrichtet; je nach ihrer Herkunft, ihren Interessen und Zukunftsabsichten jedoch unterschiedlich in Schnelligkeit und Umfang. Einigen, die vorher kaum lesen oder schreiben konnten, genügte die Vollschrift, andere, Akademiker oder Kaufleute, erhielten intensivere Übungen in Kurzschrift. Letztere bekamen auch Punktschriftmaschinen.
  

Daneben erhielten alle Unterricht in Handschrift. Da sie vor der Erblindung schreiben konnten, war es wichtig, diese Fähigkeit nicht zu verlieren. Betty berichtet: „Ebenso erhält jeder Schüler sogleich nach der Einlieferung in unser Lazarett eine Blindenuhr, welche mit starken Zeigern versehen, das Zifferblatt mit erhabenen Zahlen oder Punkten ausgestattet, jedem Blinden die Feststellung der Tageszeit ermöglicht. Es ist nicht unbeabsichtigt, dass wir diese scheinbar unbedeutenden Gegenstände zuerst verabreichen und auch hier besonders hervorheben. Wenn sich auch im späteren Verlauf der Behandlung und des Unterrichts eines jeden Mannes besondere individuelle Fähigkeiten, Neigungen und Wirkungen zeigen, so kann man doch fast bei einem jeden die Wahrnehmung machen, nämlich, dass es ihm zu Anfang seiner Blindheit als etwas unsagbar Drückendes und Peinigendes erscheint, dass er seine Gedanken und Gefühle, die er den Anverwandten oder Freunden ausdrücken möchte, nur durch die Vermittlung fremder Menschen äußern kann. Ebenso quälend erscheint es ihm, nicht selbst feststellen zu können, wie weit die Tages- oder Nachtzeit fortgeschritten ist. Man kann fast ausnahmslos eine bemerkenswerte Erleichterung der Lage beobachten, sobald der Betreffende in den Besitz dieser beiden einfachen Hilfsmittel gelangt ist. Die Uhr wird von jedem fortlaufend benutzt, während die Tafel, sobald eine Schreibmaschine an ihre Stelle tritt, natürlich mit der Zeit den Wert verliert“ (175).
  

Nachdem der Unterricht sich zunächst nur auf das Schreiben bezog, stellte sich alsbald die Frage nach den Arbeitsmöglichkeiten für die Kriegsblinden.Geheimrat Silex schilderte den Vorgang so: „In Kürze kamen wir zu der Überzeugung, dass es für diejenigen, die früher dem Handwerker- oder dem Arbeiterstande angehört hatten -- neben dem Schreiben und Lesen -- das Beste sein würde, sie einem Berufe wieder zuzuführen. Wir richteten unser erstes Augenmerk auf die allbekannten Blindenhandwerke wie Bürstenmacherei, Stuhlflechterei, Korbflechterei und Flechtarbeiten verschiedener Art“ (176).
  

Durch das Zusammenleben mit den Kriegsblinden erfuhr Betty, wie wichtig die Suche nach einem „richtigen“ Beruf für sie wurde. Ihr kam der Gedanke an den Vater einer ihrer Schülerinnen, der Direktor einer Munitionsfabrik in Spandau war.
  

„Ich sagte mir, dass er, der selbst ein blindes Kind hatte, mit helfen müsse, in den Werken Arbeit für meinen Schmied zu finden. ... Am nächsten Tage saß ich mitten unter den sehenden Arbeiterinnen in der Munitionsfabrik und konnte sofort einige der Handarbeiten, die von den Vormännern der Abteilung vorher ausgewählt waren, ohne Mühe und vollkommen richtig ausüben. Der Erfolg wirkte so schlagend, dass man mich von einer Abteilung zur anderen führte, und überall waren ein oder mehrere Prozesse zu finden, die ein Blinder so gut wie ein Sehender verrichten konnte. Hoch beglückt bat ich einen Hauptmann, der besonders Verständnis zeigte, abends in unsere Schule zu kommen und nicht nur dem (Karl), sondern mehreren ungelernten Arbeitern und Handwerkern unter unseren Kriegsblinden einen Vortrag über die Möglichkeiten dieser Arbeiten für sie zu halten. Er erklärte sich gern bereit, und am nächsten Tag wanderten fünf unserer Männer zum Lehrter Bahnhof, fuhren nach Spandau und kamen als glückliche, vollwertige Arbeiter abends mit ihrem Arbeitslohn als Blinde unter Sehenden zurück“ (177). Und es wurden immer mehr Kriegsblinde, die in Spandau arbeiteten. Andere Industriebetriebe wie Siemens und AEG kamen hinzu.
  

Der Vorgang war überall der gleiche. Zunächst Skepsis, dann das große Erstaunen, dass Blinde überhaupt arbeiten können, danach die Anstellung, die durch den Nimbus der Kriegsblinden den Direktoren der Firmen einen sozialen, menschenfreundlichen und vaterländischen Anstrich gab. Allen war gedient, den Firmen, die nicht wussten, wie sie ihren Arbeitskräftebedarf decken sollten, weil die meisten Arbeiter an der Front waren; den Kriegsblinden, die eine gut bezahlte Arbeit fanden und der öffentlichen Meinung, die mit Befriedigung feststellen konnte, dass für die aus dem Krieg als Invaliden Heimgekehrten gesorgt wurde.
 

Der größte Teil der Kriegsblinden im Ersten Weltkrieg war vor der Erblindung in der Landwirtschaft tätig. Auch für diesen Personenkreis suchten Betty und Silex Untersuchungsmöglichkeiten. Das Gut Halbau in Schlesien wurde ihnen für diesen Zweck gestiftet. Hier lernten ehemalige Bauern und Landarbeiter, Tätigkeiten in der Landwirtschaft unter Blindheitsbedingungen auszuführen.
 

Ein weiterer Personenkreis wurde im Hinblick auf eine zukünftige Arbeit ausgebildet: Maschinenschreiber und Telefonisten, im weitesten Sinne Büroberufe. An einigen Blindenschulen wurde Maschineschreiben schon unterrichtet, aber nirgends so intensiv, dass Blinde anschließend in Büros arbeiten konnten. Betty erkannte die große Chance, die in dieser Art von Arbeit für Blinde steckte und bildete zunächst versuchsweise Blinde zu Phonotypisten und Maschineschreibern aus, nicht ohne zuvor für jeden einzelnen einen späteren Arbeitsplatz zu finden. Durch die reichlich fließenden Spenden waren sie und Silex in der Lage, die Schule mit den neuesten Geräten auszustatten: verschiedenste Arten von Schreibmaschinen, Diktaphone, sogar eine kleine Telefonzentrale zum Üben erhielten sie gestiftet.
  

Bettys Tätigkeit erstreckte sich nicht nur auf den zu erteilenden Unterricht, sondern auch auf die Berufsberatung der Kriegsblinden, auf Stellensuche, auf Fahrten zu den Heimatorten der Schüler, d. h. auf die nachgehende Fürsorge. Darüber hinaus hatte sie die Organisation der Schule, die damit verbundene Korrespondenz mit Ämtern, Behörden und Firmen zu leisten. Da die Arbeit durch die Masse der eingelieferten Kriegsblinden immer mehr wurde und Bettys Kräfte bis zur Erschöpfung beansprucht wurden, ließ sie auf Anraten von Prof. Silex die Privatstunden, die sie immer noch erteilt hatte, fallen. Silex reichte im Herbst 1917 ein Gesuch für eine Stelle beim Kriegsministerium ein. Betty wurde daraufhin als Elementarlehrerin in einer Kadettenanstalt eingestellt und besoldet. Diese Dienstbezeichnung erregte in der Lazarettschule allgemeines Schmunzeln.
  

Die meisten Kollegen an den Blindenschulen blickten allerdings eher argwöhnisch auf die Arbeit der Kriegsblindenschule. Ein Direktor Bauer schrieb im „Blindenfreund“ von 1916: „Der Weg nach Spandau ist da! Freuen wir uns dessen und seien wir Herrn Professor Silex und Fräulein Hirsch dafür dankbar, verachten wir aber auch das Alte nicht. Freuen wir uns der regen Anteilnahme und Mithilfe der Behörden und Blindenfreunde; aber man überlasse doch uns Fachleuten, die wir unsere ganze Lebenskraft dem Blinden widmen, die Hauptfürsorge für die Blinden und Kriegsblinden. Wir sind doch auch Männer mit Herz und Kopf; wir werden alles prüfen, das Gute behalten und es auch schon zu benutzen wissen“ (179).
 

Betty war über die andauernde Nichtanerkennung durch die Blindenoberlehrer zeitlebens gekränkt. In einer Festschrift zum dreijährigen Bestehen der Kriegsblindenschule 1917 berichtete sie über die Erfolge ihrer Arbeit und schrieb abschließend: „Unsere Arbeit ist von vielen Seiten stark angegriffen worden, teils sollen wir nicht fachmännisch genug vorgegangen sein, teils macht man uns den Vorwurf, dass wir unsere Schützlinge verwöhnen. Wir gehen jedoch von dem Standpunkt aus, dass wir in unseren erblindeten Soldaten keine Kinder vor uns haben, sondern Männer, und dass wir diesen das Umlernen so leicht und angenehm wie möglich machen müssen, wenn wir auch vom gewohnten Weg der strengen Pädagogik abweichen. Nichts ist für unsere Kriegsblinden qualvoller, als wenn sie sich zum Kinde herabgedrückt und entmündigt sehen, das Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer wird bei uns zur Freundschaft und dadurch eine Freude für beide Teile. Der Späterblindete ist unseren Kriegsblinden gegenüber wohl der beste Fachmann, dessen Erfahrungen und Erfolge im Leben dem Kriegsblinden neuen Mut und Arbeitsfreudigkeit geben. Was aber die Verwöhnung betrifft, so halten wir es für die höchste Pflicht eines jeden Menschen, für dessen Sicherheit und Wohlsein unsere Soldaten gekämpft und gelitten und noch ihr ganzes Leben hindurch zu leiden haben, jede Arbeit und jedes Unternehmen, das ihnen eine Befreiung ihrer zukünftigen Lage schaffen kann, soweit es irgend möglich ist, zu erleichtern“ (179).
 

Bettys pädagogische Grundsätze waren aus ihren bisherigen Erfahrungen erwachsen:

Als Späterblindete hatte sie den Vorrang des Erblindens selbst erlebt und kannte die Probleme, die sich daraus ergaben. Sie konnte sich in die Situation der Kriegsblinden hineinversetzen, ihnen Mut machen, Rat und Hilfestellung geben. Als ehemaliger Zögling einer Blindenanstalt kannte sie das Gefühl, einer rigiden Ordnung unterworfen zu sein, bevormundet zu werden von Experten, außerdem erfuhr sie die Beschränktheit der traditionellen Berufsmöglichkeiten für Blinde selbst sehr schmerzlich. Als jahrelange Privatlehrerin schließlich hatte sie gelernt, ihren Unterricht auf die speziellen Bedürfnisse der jeweiligen Schüler abzustimmen, herauszufinden, auf welchem Stand sie sich befanden und geeignete Methoden und Medien einzusetzen.
  

All diese Erfahrungen kamen ihr beim Unterricht in der Kriegsblindenschule zugute. Darüber hinaus hatte sie alle Freiheiten, die sich ein Lehrer sonst nur erträumte: finanzielle Unabhängigkeit, durch das Ansehen von Prof. Silex die nötige Seriösität und Sicherheit, durch den privaten Status der Schule keine Aufsicht seitens einer Schulaufsichtsbehörde. Ihr Ziel war es, diese Freiheit voll auszuschöpfen, um die ihr anvertrauten Kriegsblinden erfolgreich beruflich wieder einzugliedern.
  

Dieses Ziel konnte nur erreicht werden, wenn sie ihren Unterricht individuell gestaltete, wenn es ihr also gelang, auf die Schüler und deren Fähigkeiten, auf gesundheitliche Möglichkeiten und Wünsche einzugehen. Nur so waren die erblindeten Menschen in der Lage, selbst an ihrer Rehabilitation mitzuarbeiten, sich Ziele zu stecken und aktiv an deren Verwirklichung zu arbeiten. Als Lehrerin verstand sie sich als Partnerin, die nicht bevormundete, sondern Einsichten vermittelte und Hilfe anbot. Dazu gehörte auch, ertragen zu können, wenn diese nicht angenommen wurden.
 

Erfolgreiche berufliche Wiedereingliederung konnte aber nicht stattfinden, wenn nur wenige Blindenberufe zur Auswahl standen. Betty ließ zwar die Möglichkeit der traditionellen Blindenberufe wie Korbflechter oder Bürstenbinder offen; die Schüler ernstnehmen bedeutete aber auch, ihre Berufswünsche aufzugreifen und diese soweit wie möglich zu realisieren. Dies erforderte, kreativ und unkonventionell und nach neuen Wegen zu suchen.
 

Festzuhalten bleibt, dass durch die Kriegsblindenschule Industriearbeiten den Blinden überhaupt erst eröffnet wurden. Sie hatte eine Entwicklung in Gang gesetzt, die Generationen von Blinden, nicht nur Kriegsblinden, einträgliche Beschäftigungen erschloss. Die Entwicklung wäre sicherlich auch ohne sie erfolgt, aber der Kriegsblindenlazarettschule bleibt das Verdienst, die Situation erkannt und ausgenutzt zu haben. Ähnliches trifft zu für die Büroberufe, den Masseur sowie Eingliederungsmaßnahmen wie Bäcker, Fleischer und Sattler.
  

Die ganze Arbeit stand und fiel mit der nachgehenden Fürsorge, eine Feststellung, die auch heute noch gilt.

 

4. Schulleiterin, Emigration, Rückkehr nach Berlin

Bis November 1918 wurden insgesamt 250 Kriegsblinde in der Lazarettschule ausgebildet.
  

Nach dem Krieg führte Betty die Schule unter dem Namen Kriegsblindenschule Geheimrat Silex weiter. 1921 zog sich Silex zurück und übereignete ihr das Mobiliar. Sie war jetzt die Besitzerin der Privatschule, die sich zunehmend auf die Umschulung Blinder in Büroberufe spezialisierte. 1925 übernahm die Hauptfürsorgestelle den größten Teil der Finanzierung, aber weiterhin trieb Betty Spenden auf, worin sie dank ausgezeichneter Beziehungen großes Geschick entwickelte.
  

Betty unternahm diverse Auslandsreisen nach Dänemark, Norwegen, England und 1927 sogar in die USA, wo sie auch zweimal mit Helen Keller zusammentraf. Auf diesen Reisen hielt sie jeweils Vorträge über ihre Arbeit. Diese Reisen werbewirksam zu gestalten, hatte sie seit ihrer Konzertzeit gelernt. Besonders angetan war sie von der Situation blinder Menschen in den USA, vor allem der wiederholt angetroffenen gemeinsamen Erziehung sehbehinderter und nicht behinderter Schüler, worüber sie nach ihrer Rückkehr nach Deutschland eifrig publizierte (Hirsch 1938/39).
  

Am 15. Januar 1933 feierte Betty ihren 60.Geburtstag. Nur zwei Wochen später wusste sie, dass sie Deutschland verlassen musste. Zwanzig Jahre hatte sie ihre Schule geleitet, über 1.000 Blinde hatte sie und ihre Kollegen ausgebildet. Die Schule musste erhalten bleiben, was aber nur möglich war, wenn Betty die Leitung abgab. Sie veranlasste Dr. Thiermann, ihren Stellvertreter, in die SA einzutreten, um die Schule bis zu ihrer Rückkehr zu leiten. Die Stadt Berlin kaufte ihr das Mobiliar für 1.300,- RM ab.
  

Am 26.10.1934 traf Betty Hirsch in England als Emigrantin ein. Alle noch übrigen Familienmitglieder kamen in Konzentrationslagern ums Leben. In England erarbeitete sie sich einen spärlichen Lebensunterhalt durch Sprachunterricht; sie wurde zweimal ausgebombt.
   

Ein Israeli, Manfred Vanson, ebenfalls gebürtiger Hamburger, erinnert sich sehr genau an Betty Hirsch. Als Mitarbeiter der British Jewish Blind Society lernte er sie während der Zeit in London kennen. Manfred Vanson war 1938 nach Großbritannien gekommen.
  

In einem Brief vom April 1989 bekräftigte Manfred Vanson den großen Einfluss, den Betty Hirsch auf ihn hatte: „Ich bin ihr zu großem Dank verpflichtet. Sie machte mir klar, dass ich erst dann meine Aufgabe erfüllt haben würde, wenn es mir gelänge, für die Flüchtlinge eine Arbeit zu finden. Ich bezweifle, ob ich in dieser Angelegenheit viel zustande gebracht hätte, wenn es sie nicht gegeben hätte. Während des Krieges war es in Großbritannien eine schwierige Angelegenheit, überhaupt Beschäftigung für Blinde im Wirtschaftsleben zu finden -- die Flüchtlinge, denke ich, haben dazu wesentlich beigetragen.
  

Ich sehe Betty Hirsch noch, wie sie in mein Büro stürmt und mich nach den Fortschritten meiner Bemühungen befragt. Wenn ich mich recht erinnere, trug sie ein Monokel mit einem dunklen Glas, das herunterbaumelte. Ich war mir nicht ganz sicher, wie gut sie sich orientieren konnte, aber sie hätte mit Sicherheit keine Hilfe von mir angenommen“ (184).
  

Am 20. Januar 1947, fünf Tage nach ihrem 74. Geburtstag, kehrte Betty zurück ins chaotische Nachkriegs-Berlin und suchte nach ihrer Schule, die mittlerweile Silex-Handelsschule hieß. Sie war 1943 in die Lausitz verlagert worden, im Februar 1945 geteilt und in die Oberpfalz bzw. nach Bayern verbracht worden. Betty half dabei, dass Dr. Thiermann einen „Persil-Schein“ (Entnazifizierung) ausgestellt bekam. Am 7. Mai 1947 erhielt Betty vom Magistrat der Stadt Berlin den schriftlichen Auftrag, die Rückverlegung der Silex-Handelsschule vorzubereiten. Sie kämpfte mit unvorstellbaren Schwierigkeiten, nichts funktionierte. Die gesamte Infrastruktur war zerstört. Und doch gab sie nicht auf, sie wollte die Schule an eine allgemeine Handelsschule angliedern, bevor sie sich zur Ruhe setzte.
  

Betty schreibt: „Dann spielte man mir einen Streich, dessen Wirkung auf mich wohl niemand nachfühlen kann. Als der Antrag zu meinem höchsten Ziel sich verwirklicht hatte und die Schule in einer Handelsschule für Sehende untergebracht war, kam der Lehrer, der sich angemaßt hatte die Leitung zu übernehmen, zu mir und teilte mir mit, dass die Schule in zwei Tagen in die Steglitzer Blindenanstalt verlegt werde. Man hatte es in einer Konferenz ohne mich so bestimmt. Die Politik hatte gesiegt. Möge es den deutschen Blinden zum Segen gereichen“ (183).
 

Betty gab sich verbittert geschlagen. Sie erteilte wieder Privatunterricht.
 

Am 15. Januar 1953 wurde ihr 80. Geburtstag groß in der Presse gefeiert. Zu dieser Zeit begann sie, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Die letzten Aufzeichnungen sind am 18. November 1956 entstanden.
  

Weitgehend vergessen starb Betty Hirsch am 8. März 1957 im Krankenhaus an Altersschwäche. Ihr Grab kann man nicht mehr besuchen; es wurde zwanzig Jahre nach ihrem Tod eingeebnet, da keiner mehr für die Kosten aufkam.
    

Betty Hirsch als blinde und jüdische Frau kämpfte in einer von Männern beherrschten Gesellschaft für ihre eigene Identität und Selbstbestimmung, aber zugleich für die ihrer Schicksalsgenossen.Geleitet von den Bedürfnissen und Möglichkeiten jedes einzelnen, hielt sie im Bereich der beruflichen Qualifizierung Ausschau nach erweiterten Ausbildungs- und Berufschancen, die den erblindeten Soldaten des Ersten Weltkrieges zu einer Rückkehr in die Gesellschaft verhelfen sollten.
  

Diese vielseitige, hochqualifizierte und durch zahlreiche Auslandsreisen gebildete „deutsche Helen Keller“, wie sie nicht selten tituliert wurde, war durch ihre unkonventionelle und zugleich erfolgreiche pädagogische Arbeit vielen männlichen Repräsentanten ihrer Zunft ein Dorn im Auge. Ungeachtet ihrer großen pädagogischen Erfolge und Kompetenz blieb sie ein Leben lang fachlich isoliert. Wie so viele andere deutsche Emigranten wurde sie nach 1945 keineswegs mit Freuden empfangen -- ganz zu schweigen etwa von Anerkennung und Respekt. Ihr großer Traum, neue Ideen der gemeinsamen Erziehung blinder und sehender Schüler, wie sie sie in Amerika kennengelernt hatte, auch im Berlin der Nachkriegszeit zu verwirklichen, scheiterten -- mussten scheitern. Es sollten Jahrzehnte vergehen, bis sich die deutschsprachige Heilpädagogik an Betty Hirsch und ihre zukunftsweisende Pädagogik für behinderte Menschen erinnerte.

 

 

Literatur:

Ellger-Rüttgardt, Sieglind (Hrsg.): Verloren und Un-Vergessen. Jüdische Heilpädagogik in Deutschland.Weinheim 1996

Hirsch, Betty: Die Blindenpflege in USA. In: Jüdisches Blindenjahrbuch. Jhrg. 1938/39, 89-94.
 

1 Für die Nachweise der Quellen- und Literaturangaben verweisen wir auf Sieglind Ellger-Rüttgardt (Hrsg.): Verloren und Un-Vergessen. Jüdische Heilpädagogik in Deutschland. Weinheim 1996. Im folgenden werden im Text nur die jeweiligen Seitenangaben in Klammern erwähnt.

 

 

 

 

 

 

 



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