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Dorothea Clostermeyer

Dr. Hans-Eugen Schulze

Dorothea Clostermeyer
1894-1990

Erste blinde Blindenlehrerin in Deutschland


Nachdem ich in "horus" 1999, Blindenschriftseite 259 ff., Schwarzschrift Seite 69 ff., über den Lebenskampf von Betty Hirsch berichtet habe, folgt hier, was ich über Frau Clostermeyer ermitteln konnte. Ich verwerte dabei insbesondere einen von ihr selbst verfassten Lebenslauf, den eine ihrer Kolleginnen in der Zeitschrift des Verbands der Blinden- und Sehbehindertenpädagogen 1987, Seite 159, hat veröffentlichen lassen.

Wie Frau Hirsch, so hatte auch Frau Clostermeyer noch gegen die Vorurteile zu kämpfen, mit denen man im ersten Viertel des vorigen Jahrhunderts blinden Frauen und Mädchen begegnete, die einen höheren Beruf anstrebten. Aber sie hatte Eltern - sie entstammte einem Pfarrhaus in der Nähe von Bielefeld -, denen es offenbar selbstverständlich war, auch einer blinden Tochter eine optimale Schul- und Berufsausbildung zu ermöglichen.

Geboren wurde sie am 1. Oktober 1894. Sie litt von Anfang an unter starker Kurzsichtigkeit. Nach einer Operation konnte sie zwar wieder fast normal sehen, erblindete aber im Jahre 1912 infolge Netzhautablösung total. Den Schulweg, den sie bis dahin gegangen war, kennen wir nicht. Insofern erwähnt sie lediglich: "Nach meiner Erblindung kam ein praktischer Beruf nicht mehr in Frage." Ein Oberlyzeum in Bielefeld lehnte ihre Aufnahme ab. 1913 wurde sie in das Private Lyzeum für Blinde und Schwachsehende von Dr. Mencke in Braunschweig aufgenommen. Als dieses geschlossen wurde, bereitete sie sich in einer privaten Schule für Sehende auf das Abitur vor, das sie an einer Oberrealschule in Hannover ablegte. Nach vielen vergeblichen Bemühungen sagte ihr das Oberlyzeum in Kaiserswerth bei Düsseldorf die Aufnahme in die "Seminarklasse" zu, wenn sie die Aufnahmeprüfung bestünde. Ein junger Lehrer vermittelte ihr das nötige Wissen. Wie das im Einzelnen geschah - ob sie sich lückenlos auf ihr Gedächtnis verlassen konnte oder sich Blindenschriftnotizen machen musste und welche Geräte ihr damals dafür schon zur Verfügung standen -, wissen wir nicht. "Im Seminarjahr konnte ich mich dann gut behaupten; zur Lehramtsprüfung sollte ich allerdings nicht zugelassen werden. Auf Grund guter schriftlicher Arbeiten und Lehrproben fand der zuständige Schulrat einen Ausweg." Die Lehramtsprüfung bestand sie im Jahre 1917 mit Auszeichnung. Trotzdem wurde in ihrem Zeugnis vermerkt: "Zum öffentlichen Schuldienst nicht zugelassen". Deshalb gab sie zunächst in Bielefeld Schülern höherer Schulen Nachhilfeunterricht in Fremdsprachen und Mathematik und unterrichtete in Abendkursen junge Kaufleute in Deutsch und Englisch. Sie wollte jedoch "in den Blindendienst" eintreten und bewarb sich dazu um Aufnahme in den zweijährigen Lehrgang für Blindenlehrer in Berlin-Steglitz. Wieder erfolgte Ablehnung. "Durch die Beziehungen meiner Familie zum zuständigen Ministerium erreichte ich 1922 mein Ziel. Ich bestand die Prüfung 1924 mit guten Noten und wurde weiterhin an der Blindenschule beschäftigt, zunächst mit geringer Vergütung, dann als Hilfslehrerin. Die mir versprochene Planstelle wurde mit einem Kriegsblinden besetzt, der jedoch bald aufgab. So wurde ich als erste nichtsehende Blindenoberlehrerin angestellt und blieb bis zur Pensionierung 1956 in Berlin-Steglitz tätig."

Frau Clostermeyer hatte schon vor dem Kriege unter dem Titel "Freude überall" Lesestoff für die Unterstufe herausgegeben. Dr. Ilse-Maria Gessner, gleichfalls blinde Blindenlehrerin und heute im Ruhestand in Bad Brückenau lebend, schreibt darüber in der schon erwähnten Zeitschrift des Verbands der Blinden- und Sehbehindertenpädagogen 1965, Seite 93 f.: "Die Kollegen an den Unterstufen unserer Blindenschulen, darüber hinaus aber jeder Blindenpädagoge, dem das Eindringen in die Erlebnisweise seiner Schüler ein Anliegen ist, werden von der Neuauflage dieses Büchleins großen Gewinn haben. Wir sind dem VzFB für die Neuauflage herzlich dankbar, besonders aber der Verfasserin für die Neubearbeitung dieses durch Kriegseinwirkung verloren gegangenen Lesegutes. - Doris Clostermeyer hat während ihres jahrzehntelangen Wirkens als Blindenoberlehrerin an der Blindenbildungsanstalt Berlin-Steglitz entscheidend an der Kandidatenausbildung mitgewirkt. Sie war unablässig bemüht, ihren Schülern den Weg in die Außenwelt zu erschließen, durch Vermittlung exakter Anschauung einerseits, durch Weckung der geistig-seelischen Aufnahmebereitschaft und Erkenntnisfreudigkeit andererseits. In kindgemäßer Form, die mit großer Treffsicherheit gemeistert wird, werden zeitlose Stoffe dargeboten. Vor allem wird das Kind zum Beobachten der Natur durch alle verbliebenen Sinne angeregt und zu schlichter phrasenloser Darstellung seines Erlebens angeleitet. Man merkt es dem Büchlein in jedem Abschnitt an, dass es aus tiefer pädagogischer Liebe entstand. Zugleich weist es die in unverdrossenem Ringen erlangte Fähigkeit auf, alles Bedeutsame, Lebensformende klar, einfach und wirklichkeitsgetreu zu vermitteln ..."

Beim Blindenlehrerkongress 1951 in Hannover (Kongressbericht Seite 146 ff.) hielt Frau Clostermeyer einen Vortrag mit dem Titel "Blinde Mädchen werden selbstständig - Gedanken einer Schicksalsgefährtin zur Frage der Anstaltserziehung". Die damals von ihr aufgestellten Forderungen dürften inzwischen überall beachtet werden. Darum verzichte ich darauf, sie hier im Einzelnen wiederzugeben. Vor einem halben Jahrhundert dürften sie aber für die Blindenpädagogik wegweisend gewesen sein.

Einen in der Septemberausgabe 1980 der "Blindenselbsthilfe" veröffentlichten Bericht über das Blindenaltenheim in Kassel schließt Frau Clostermeyer mit den Sätzen: "Ich lebe seit 17 Jahren in diesem Heim. Mein Leben war hart und kampfreich, und diese letzte Etappe ist der glücklichste Abschnitt meines Daseins. Hier lebe ich wundervoll, nie einsam, immer irgendwie beschäftigt und ganz und gar ausgefüllt und zufrieden. Und ich versuche immer wieder, es meinen Heimgefährten klarzumachen: Das Blindenheim ist keineswegs die letzte Station, sondern es ist der letzte Abschnitt unseres Lebens, genau so wertvoll wie die früheren Abschnitte. Es liegt nur an uns, diesen Teil des Lebens noch sinnvoll auszufüllen und zu gestalten."

Das Leben in Alten- und Pflegeheimen hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten grundlegend geändert. Heute wechselt fast nur noch jemand in ein Heim, der auch mit Hilfe aller inzwischen zur Verfügung stehenden ambulanten Dienste nicht mehr "in den eigenen vier Wänden" leben kann. In vielen Heimen überwiegt darum die Zahl der schwerstpflegebedürftigen Bewohner die Zahl der anderen bei weitem. Aber die Botschaft bleibt, dass der letzte Abschnitt unseres Lebens genau so wertvoll ist, wie die früheren es waren, und es weitgehend an uns selbst liegt, diesen Teil des Lebens noch sinnvoll auszufüllen und zu gestalten. Wie das möglich ist, haben 37 Senioren in der im Jahre 1994 von Frau Dr. Liebe herausgegebenen Schrift "Blinde und Sehbehinderte im dritten Lebensabschnitt" geschildert.

Frau Clostermeyer selbst ist am 6. März 1990 in Kassel verstorben, hat dort also noch zehn Jahre über die Abfassung ihres Artikels hinaus gelebt und ist schließlich mehr als 95 Jahre alt geworden - wie sie die letzten zehn Jahre dort verbracht hat, lässt sich nicht mehr rekonstruieren.


Quelle: Horus
Berichte und Schilderungen

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