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Gerrit van der Mej

Volker F. Hahn

Gerrit van der Mej
1914-2002

Mathematische Bildung in der Blindenpädagogik


Unabhängig, positiv, lernbegierig, willensstark.” 1 - dies sind nur wenige Attribute, die den außergewöhnlichen Menschen Gerrit VAN DER MEIJ 2 charakterisieren. Er wurde am 15. Januar 1914 im niederländischen Lisse als Sohn eines Blumenzüchters und -händlers geboren. Bereits im Alter von 5 Jahren verlor der Junge infolge einer Hirnhautentzündung sein Augenlicht vollständig. Eingeschult wurde er erst im Alter von acht Jahren in die Grundschule des Blindeninstitutes in Huis ter Heide. Von dort wechselte er 1926 in die Blindenschule nach Amsterdam. Schon in diesen jungen Jahren zeigte sich ein außerordentlich großes Interesse für technische und naturwissenschaftliche Zusammenhänge. “Als Kind gräbt er Kanäle, baut er Brücken und nimmt er Uhren und Maschinen auseinander”, so seine Tochter Machteld. Die Eltern und ein Bruder des Vaters, der sich als Ingenieur einen Ruf als Spezialist für Eisenbetonbau erworben hatte, unterstützen seinen Forscherdrang und schenken ihm zu Nikolaus einen Meccano-Technikbaukasten.

Da es zu jener Zeit für einen begabten blinden Menschen in den Niederlanden praktisch unmöglich war, eine höhere Schulbildung zu erlangen, erhielt Gerrit VAN DER MEIJ ab April 1931 die Gelegenheit, in das Aufbaugymnasium der Deutschen Blindenstudienanstalt nach Marburg zu wechseln.

Hier kann er endlich seine Begabungen völlig entwickeln. Vor allem aber durch die Einstellung seines Mathematiklehrers Dr. Mittelsten Scheid, wissen er und seine Freunde, mit denen er bis zum Ende seines Lebens in Kontakt bleiben wird, später ihre Stelle in der Gesellschaft zu finden.” 3

Neben seinem technischen Verständnis erkannten seine Lehrer in Marburg rasch seine überdurchschnittliche mathematische Begabung. In einem Porträt seines langjährigen Schulfreundes, Alfons MUTTER, erfahren wir hierüber:

Gerrit war ausgesprochen naturwissenschaftlich begabt, namentlich für Mathematik und Physik. (...) In Mathematik überflügelte er bald uns alle, und er bewältigte spielend das Pensum der über seiner Klasse liegenden Jahrgänge, von denen er mehr als einem bei der Vorbereitung zur Reifeprüfung tatkräftige Hilfe leistete.” 4

MUTTER berichtet weiter, dass sein Freund darüber hinaus auch einen großen Hang zur klassischen Musik besaß und mit Vorliebe Bach spielte. Selbst den Sprachen war er zugeneigt, wie SCHRANZ, einer seiner Lehrer in Marburg:

Er ist ein sehr guter Schüler und zeigt nicht nur einseitiges Interesse für die Mathematik und die naturwissenschaftlichen Fächer, sondern auch die Beschäftigung mit den fremden Sprachen, besonders das Sprachenvergleichen, macht ihm Freude. Seit einiger Zeit treibt er für sich allein das Friesische.” 5

In dem erwähnten Beitrag würdigt SCHRANZ eine außergewöhnliche Leistung des jungen Gymnasiasten, nämlich die Erfindung zweier völlig funktionstüchtiger Maschinen: einer Webmaschine und einer Einpackmaschine. Realisiert wurden diese anspruchsvollen technischen Konstruktionen mit dem schon erwähnten Meccano-Technikbaukasten. Machteld VAN DER MEIJ berichtet, dass ihr Vater mit diesen Entwürfen sogar Preise bei den international ausgeschriebenen Konstruktionswettbewerben der Meccanofabrik in England gewonnen habe.

Nach bestandener Reifeprüfung kehrt Gerrit VAN DER MEIJ 1936 in die Niederlande zurück und beginnt an der Universität von Leiden das Studium der Mathematik und Physik. Nach Schließung dieser Hochschule durch die deutschen Besatzer wechselte er 1940 an die freie Universität Amsterdam. 1943 schloss er das Studium “cum laude” ab und beschloss, in Mathematik zu promovieren.

Obwohl ihn das Schicksal schon hart genug getroffen hatte, schlug es doch im Januar 1945 erneut erbarmungslos zu. Wieder war eine Gehirnhautentzündung Ursache seines Leidens: Über Nacht verlor er das Gehör und wurde taub. Gerrit VAN DER MEIJ schrieb selbst darüber: 6

Eine völlige Ertaubung überfiel mich nachts im Schlaf, ganz unerwartet. Das Fenster meines Zimmers war offen, weil ich bis dahin gemeint hatte, nur schwer erkältet zu sein. Morgens beim Aufwachen wusste ich trotz des inzwischen stark gestiegenen Fiebers, daß der Tag schon angefangen hatte, hörte aber nichts davon. Die unnatürliche und dadurch unheimliche Stille veranlaßte mich, versuchsweise selber Laute zu machen. Sie kamen mir so leise und dumpf vor, daß ich nicht umhin konnte, mich für “taub” zu erklären.”

Obwohl er nichts mehr um sich herum akustisch wahrnehmen konnte, konnte er merkwürdigerweise sich selbst reden hören. “Später wird er dieses Phänomen Urgehör nennen”, so Machteld VAN DER MEIJ. Mit dem Gehörverlust einher ging der Verlust des Gleichgewichtsgefühls. Der nunmehr taubblinde musste neu gehen lernen und sich neu in die Welt einfinden. Ein deutscher Flüchtling lehrte ihn das Lormalphabet. Mit eisernem Willen und großer Selbstdisziplin setzte er dennoch sein Promotionsstudium fort. Mit einer Dissertation über “Die Schnittpunkte flacher algebraischer Kurven” 7 schloss er dieses 1946 erfolgreich ab.

Die folgenden Jahre verbrachte er mit privaten Studien im elterlichen Hause, da es zunächst fast aussichtslos erschien, als taubblinder Mathematiker eine Anstellung zu finden. Intensiv beschäftigte er sich während dieser Zeit mit der Weiterentwicklung einer internationalen Mathematikschrift für Blinde und arbeitete mit der Marburger Gruppe eng zusammen (s. o.). Erst mit der bald einsetzenden Entwicklung der Rechenmaschinentechnik eröffneten sich auch für Gerrit VAN DER MEIJ neue Perspektiven.

Noch bevor er 1954 seine Frau Suus heiratete - aus der Ehe gingen vier 8 Töchter hervor - bot ihm die Königlich Niederländische Post (Post-Telefon-Telegraf, PTT) 1952 die Möglichkeit, als Programmeur und Entwickler zu arbeiten. PTT konstruierte mit seiner Unterstützung ein eigens entwickeltes Braille-Telefon für ihn und später noch ein Braille-Telex um die Kommunikation untereinander sicher zu stellen. Gerrit VAN DER MEIJ fand in seinen Kollegen und Vorgesetzten große Offenheit ihm gegenüber und vor allem Vertrauen in seine wissenschaftlichen Fähigkeiten. Wie anerkannt diese auch über die Heimatgrenzen hinweg waren, wurde im Dezember 1961 deutlich, als der taubblinde Mathematiker auf Einladung des Institutes für angewandte Mathematik der Universität Mainz einen Vortrag über seine neusten Forschungsergebnisse zur Computersprache “ALGOL” vortragen konnte. Voller Hochachtung schrieb MITTELSTEN SCHEID hierüber:

Seinen beiden Schulkameraden und seinem alten Lehrer, die Ohrenzeugen des Vortrags sein durften, war es eine besondere Freude, mit welcher Frische, Lebendigkeit und souveränen Beherrschung des Stoffes der Vortragende sprach. Zuhörer, die nichts über die Vergangenheit des Redners wußten, fragten uns erstaunt, wie er diese Sicherheit und Gewandtheit in der deutschen Sprache erlangt habe. Sie wollten es kaum glauben, daß er seit Ablegung seines Abiturs an der Blindenstudienanstalt vor einem Vierteljahrhundert kaum mehr Gelegenheit zur Unterhaltung in deutscher Sprache gehabt hat.” 9

Als sein langjähriger Vorgesetzter, Gönner und Freund Dr. VAN DER POEL im Jahre 1967 eine Professur an der Technischen Hochschule in Delft antrat, ging VAN DER MEIJ mit ihm und wurde wissenschaftlicher Hauptmitarbeiter. Dies blieb er bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1980. Gerrit VAN DER MEIJ starb am 6. November 2002. Eine außergewöhnliche Lebensgeschichte eines neben der Blindheit zusätzlich beeinträchtigten Menschen war zu Ende und legte Zeugnis von unerschütterlicher menschlicher Zielstrebigkeit, Willensstärke und intellektueller Kraft ab. In seiner ihm eigenen Bescheidenheit meinte er 1982 bei einer öffentlichen Ordensverleihung:

Ich sehe diesen Orden eigentlich eher als eine postume Ehrenerweisung an meine Eltern und als Zeichen der Anerkennung für meine Frau, Schwiegermutter, Kinder und Freunde. Ohne sie hätte ich nie das Leben führen können, das ich jetzt führe.” 10


Aus: Mathematische Bildung in der Blindenpädagogik
Probleme und Veranschaulichungsmedien beim Mathematiklernen Blinder
mit einem Lösungskonzept im Bereich geometrischer Grundbildung

Verlag BoD, Norderstedt 2006, S. 59 ff.


1 Vgl. VAN DER MEIJ (2004). Eine deutsche Übersetzung der Kurzbiographie in diesem Werk ist mir dankenswerterweise von der Tochter, Machteld van der Meij, in einem Brief vom Januar 2005 zur Verfügung gestellt worden. zukünftig zitiert als: Briefwechsel van der Meij (2005)

2 Wir richten uns nach der von der Tochter benutzten Schreibweise des Familiennamens. In einigen deutschen Quellen variiert die Schreibweise. Diese übernehmen wir dann wegen der bibliographischen Korrektheit.

3 Briefwechsel van der Meij (2005)

4 MUTTER (1979), S. 16

5 SCHRANZ (1934), S. 83

6 MUTTER (1979), S. 16

7 Der niederländische Originaltitel der Arbeit lautet: “De resultant in de theorie der algebraische krommen”. Leiden, Rijksuniv. Diss., 1946

8 Und wieder traf ihn das Schicksal hart, da das erste Kind bereits im Säuglingsalter starb.

9 MITTELSTEN SCHEID (1962a), S. 5

10 Briefwechsel van der Meij (2005)

 

    

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