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Hieronymus Lorm

Hartmut Mehls

Hieronymus Lorm
1821-1902

Der Erfinder des nach ihm benannten Fingeralphabets der
Taubblinden

Leben und Werk des Hieronymus Lorm


Und droht auch Nacht der Schmerzen ganz
Mein Leben zu umfassen -
Ein unvernünft'ger Sonnenglanz
Will nicht mein Herz verlassen.

Der Dichter dieser Verse ist nur noch wenigen Spezialisten und Liebhabern von guten Gedichten ein Begriff; im "Brockhaus" und Literaturlexikon von Killy findet der Suchende noch Angaben über Person und Werk des taubblinden Hieronymus Lorm; aber selbst in Standardwerke über Blinde und Blindenwesen wurde der Literaturkritiker, Journalist, Schriftsteller, Dichter und Philosoph nicht aufgenommen, obwohl die gebräuchlichste Zeichensprache der Taubblinden im deutschen Sprachraum - das Lormen - seinen Namen trägt. Zu seinem 100. Todestag am 3. Dezember 2002 sei an ihn und sein Werk erinnert.

Mehrfache Auflagen seiner drei Gedichtbände, fünf Novellensammlungen, zwölf Romane und der philosophischen Schriften, für die er im Jahre 1873 den Ehrendoktor der Universität Tübingen erhielt, belegen eindeutig, da? er während seines Lebens zwar keinen sehr gro?en, aber festen Leserkreis besa?. Nach seinem Tode erleben Lorms Werke keine Neuauflagen. Es erschienen lediglich die "Bekenntnisblätter. Verstreute und hinterlassene Aufzeichnungen eines Dichterphilosophen" von Philipp Stein, 1905 herausgegeben, und eine Auswahl seiner Briefe (1912). Darüber hinaus gelangten einige Aufsätze und zwei Bücher über sein literarisches und philosophisches Werk zum Druck; jedoch werden nach wie vor Gedichte in gro?e Sammlungen aufgenommen

Killys Literaturlexikon hebt als Leistung von Hieronymus Lorm hervor, da? aus "den Tagesstimmungen erwachsene, atmosphärisch dichte Prosaskizzen, seine pointierten Anekdoten und geistvollen Plaudereien ... ihn zum ersten Feuilletonisten" Wiens zwischen 1850 und 1873 machten. "Seine Bühnenwerke hingegen fanden nur wenig Anklang ... Lorms eigentliche Leistung liegt auf dem Gebiet der Literaturkritik." Seine Lyrik wird als "formal und rhythmisch eigenständig" gewertet. Die Gedichte Lorms werden dabei zu eng mit dem philosophischen Pessimismus eines Arthur Schopenhauer in Verbindung gebracht, und ihr inhaltlicher Reichtum bleibt unerwähnt. Aber Lorms "grundloser Optimismus", wie das philosophische Hauptwerk aus dem Jahre 1895 lautet, bejaht trotz Taubheit und Blindheit das Leben und hebt sich ganz bewu?t von Schopenhauer ab. Allerdings drückt seine Lyrik nicht selten eine stille Verzweiflung aus. Es ist kein Weltschmerz, sondern tiefes, persönliches Erleben. Lorm schreibt in seinen autobiographischen Aufzeichnungen aus dem Jahre 1896: "Von jedem meiner Gedichte kann ich sagen, da? es als Musikstück mein Inneres durchklungen hat, bevor ich noch einen Vers dazu gestaltete." Sie müssen aber auch als "Hilferuf an die Au?enwelt" verstanden werden.

Die Einschätzung des Literaturlexikons, da? seine zahlreichen Romane nur noch von zeitbedingtem Interesse seien, teile ich in dieser Absolutheit nicht. Vielmehr stimme ich der von Julius Straub in seiner Dissertation von 1959 geäu?erten Auffassung zu, da? Hieronymus Lorm die Wiener Gesellschaft und das Wiener Judentum vor dem Jahre 1848 treffend porträtiert. Ob er wirklich den besten Gesellschaftsroman Wiens für jene Zeit verfa?t hat, bedarf freilich umfangreicherer literarhistorischer Untersuchung. Wer die Wiener Oberschichten und das Judentum um die Mitte des 19. Jahrhunderts auf unterhaltsame Weise kennenlernen möchte und dazu den realistischen französischen und englischen Roman liebt, der sollte zu den Werken Lorms greifen - falls sie überhaupt greifbar sind. Denn während Bücher der Marlitt, die in Stoff und Stil mit Lorms Romanen vergleichbar sind, ohne jedoch deren Tiefe und Ernst zu erreichen, in den Blindenhörbüchereien auf Kassetten ausgeliehen werden können, besitzt selbst die Staatsbibliothek zu Berlin nur einen Teil der Schriften des taubblinden Literaten.

Im 19. Jahrhundert, wo so mancher Autor nur kümmerlich sein Leben fristete, verdiente Lorm (obwohl er zunächst taub und später dazu noch blind wurde) als Literaturkritiker, Journalist und Schriftsteller genug Geld, um davon mit seiner Frau und drei Kindern leben zu können. Solches gelang im 19. Jahrhundert nur wenigen Blinden. Allerdings sah er sich nicht selten gezwungen, Zugeständnisse an den Zeitgeschmack zu machen. Deshalb erfreute er sich nicht immer an dem, was er verfa?te. Lorm selbst brachte es einmal so auf den Punkt: "Der Bäcker besteht darauf, da? ich mich zum Schreiben begeistere." Und er schuf unermüdlich.

Das Leben des Hieronymus Lorm verlief abseits und isoliert von der Wiener und später Dresdener bzw. Brünner Gesellschaft. Er selbst bezeichnete einmal sein Studierzimmer - in Anlehnung an Heinrich Heines "Matratzengruft" - als "Totengruft" und "Grab". Während aber Heine das Leiden zum Gegenstand seiner Dichtung erhob, bevölkerte Lorm sie mit gro?en Gestalten aus Kunst und Philosophie; mit ihnen kamen Gefühle, die er in Dichtung umsetzte. Obwohl er die Taubblindheit in seinen Gedichten und Schriften nicht thematisierte, wies Lorm auf ihren inneren Zusammenhang mit seinen Leiden selbst hin: "Es bedarf in Hinblick auf meine körperliche Situation, auf die doppelte Chinesische Mauer, die mich von der Au?enwelt abschied, keines Beweises, da? mein Schreiben nichts als ein Hilferuf eben nach der mir entrissenen Au?enwelt von jeher gewesen ist." Wie Freunde berichteten, war Lorm trotz alledem heiter, ausgeglichen und klagte nicht über sein Schicksal; selten nur überwältigten ihn Schmerz und Trauer.

Philipp Stein, der Herausgeber der "Bekenntnisblätter" und Schwiegervater von Lorms jüngstem Sohn Adolf, schreibt im Vorwort: "Freilich gro?es, unschätzbares Verdienst daran, da? Hieronymus Lorm so selten bewu?t wurde, wie hart das Geschick mit ihm verfahren, hatte die Liebe seiner Familie, die mehr war als hingebend und pietätvoll, die opferwillig die Existenz dieses seltenen Menschen ermöglicht hat ... In opferwilligster Hingabe hat seine Tochter Marie ihr Leben dem blinden und tauben Vater gewidmet. Sie ist ihm Auge und Ohr gewesen." Seiner Tochter und seiner Frau setzte Lorm in seinen Romanen ein Denkmal, indem er gro?artige Frauengestalten schuf, die sich in Liebe für die Familie aufopferten. Taubblindheit und jüdische Familientraditionen sind der Ursprung für diese Frauengestalten, die zu den schönsten der deutschen Prosaliteratur zählen. Die Tochter Marie war sein Bindeglied zur Au?enwelt; wer von Lorm und seinen Werken spricht, schlie?t Marie und die Familie mit ein.

Die Lebensdaten von Hieronymus Lorm sind bald aufgezählt. Er selbst schreibt: "Es wäre mir leicht, mein dürftiges, ereignisloses Dasein, das ein Grashalm unter Millionen Grashalmen ist, dennoch in einem dicken Buche zu beschreiben unter dem Titel: 'Memoiren eines Mannes, der nichts erlebte'."

Hieronymus Lorm kam am 9. August 1821 als Heinrich Landesmann in Nikolsburg (Mähren) in einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie zur Welt. Bei seiner Geburt war er schwächlich und überlebte nur, weil seine Mutter sich geradezu aufrieb, um das Leben des Knaben zu erhalten. "Sie hatte kein Einsehen. Schonungslos wie ein Kriminalrichter brachte sie es dahin, da? ich zum lebenslänglichen Leben verurteilt wurde." Lorm fragt nach dem Sinn der mütterlichen Aufopferung. "Hat sie sich wirklich nicht umsonst geplagt?" Das war zugleich die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens und Leidens, die er, bei aller Relativierung und Selbstkritik, bejaht. "Wenn aber keinen solchen, so habe ich doch einen kleinen Namen errungen. Und dies will bei einem Schriftsteller in Deutschland soviel sagen, da? er zwar nicht den Segen und die Ehre der Zelebrität, aber alle ihre Schmerzen und Schäden zu kosten bekommt." Nur wenige Jahre vor seinem Tode konstatierte er, da? die Mühen der Mutter nicht vergebens waren.

Die Familie Landesmann übersiedelte bald nach der Geburt des Knaben nach Wien. Der Vater, geistig und künstlerisch sehr interessiert, zog die unterschiedlichsten Menschen in den Familienkreis. Im Salon der Landesmanns verkehrten Kulturschaffende aller Coleur, Wissenschaftler und Politiker der Wiener Gesellschaft. Heinrich, der bis zu seiner Ertaubung virtuos musizierte, lernte so im Elternhause viele geistvolle und interessante Männer und Frauen der Wiener Gesellschaft mit deren privaten und gesellschaftlichen Konflikten kennen. "Meine Jugend glich einem Schauspiel voll lärmender Bewegung mit häufigem Dekorationswechsel und einer gro?en Zahl auftretenden Personen."

Aus seinen Jugenderlebnissen entsprang Lorms Realismus, entnahm er die Gestalten und Szenen seiner Novellen und Romane. Dort lag der Fundus, aus dem er schöpfte. Hier war die Quelle seiner literarischen Gestaltung, aber auch eine Ursache, weshalb seine Werke nicht im Hauptstrom der Zeit lagen. Lorm pflegte den Bürgerlichen Realismus, als der Naturalismus im Schwange war.

Im 16. Lebensjahr ertaubte Heinrich plötzlich, ohne da? die ?rzte dafür eine Erklärung fanden, und seine Sehkraft verringerte sich stark. Mit Anfang 20 erblindete er auf dem linken Auge. Philipp Stein schreibt: "Das Unglück, das seine Jugend verdüsterte, hat den in ihm schlummernden Poeten geweckt, und als dann später ein erneuter Schicksalsschlag ihn noch härter traf, als er schlie?lich die Sehkraft völlig verlor, da hat sein Innenleben sich immer reicher und reicher entwickelt. Die Au?enwelt sah und hörte er nicht mehr, da schuf er sich in sich eine neue Welt."

Lorm schrieb Gedichte, Plaudereien und Literaturkritiken, die in Zeitungen erschienen. Als erste grö?ere Arbeit veröffentlichte er ein Faustisches Epos in fünf Gesängen: "Abdul". Hier erscheint der Erlösungsgedanke des Menschen in der romantischen Verklärung des Morgenlandes.

Form und Rhythmus des Epos' stehen noch ganz im Banne der Dichtungen von Nikolaus Lenau, den er zeitlebens verehrte.

Mitte der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts wandte er sich verstärkt der Literaturkritik zu, wodurch er die Aufmerksamkeit der österreichischen Zensurbehörde auf sich zog. Um seine Familie nicht zu gefährden, emigrierte Heinrich Landesmann 1846 zunächst nach Leipzig und später nach Berlin. Hier stellte er seine erste Publikation zusammen, die er unter dem Titel "Wiens poetische Schwingen und Federn" im Jahre 1847 veröffentlichte. Sie gehört zur politischen Literatur des Vormärz und richtet sich gegen die in Wien herrschende Zensur. Mit Verachtung wandte er sich gegen jene Schriftstellerkollegen, die sich den österreichischen Zensurgesetzen unterwarfen. Aus Rücksicht der Familie gegenüber lie? er das Buch unter dem Pseudonym "Hieronymus Lorm" erscheinen. Diesen Namen behielt er - bis auf eine philosophische Schrift Anfang der 70er Jahre - stets bei. Hieronymus nannte er sich nach dem Kirchenvater, der die Bibel ins Lateinische übersetzte und als Eremit lebte; Lorm ist die Titelgestalt eines englischen Romans.

In Leipzig und Berlin hielt Lorm engen Kontakt zu zahlreichen namhaften Schriftstellern und Geistesschaffenden seiner Zeit. "Die Kunst, Gesprochenes von den Lippen abzulesen, das rasche Verständnis in die Luft geschriebener Worte und eine bequeme Zeichensprache hatten alle Hindernisse beseitigt, um mir den reichsten Verkehr mit der gro?en Welt und mit vielen Menschen offen zu lassen, wie sich später aus meiner novellistischen Produktion ergab."

Nach der Revolution von 1848 kehrte Lorm nach ?sterreich zurück und wurde Wiens bekanntester Feuilletonist. Warum er sich nach kurzem Aufenthalt nach Baden bei Wien zurückzog, lä?t sich aus den zugänglichen Quellen nicht erschlie?en. Es war eine Selbstisolation. Hier heiratete er Henriette Frankl, die ihm die Tochter Marie und die Söhne Ernst und Adolf gebar. In den veröffentlichten Briefen und autobiographischen Notizen - sein Nachla? scheint verloren - widmet Lorm der Familie nur wenig Raum, ganz im Gegensatz zum täglichen Leben.

In den Jahren bis 1873 schrieb er vor allem - neben seinem bekanntesten Roman "Gabriel Solmar" - Feuilletons, Literaturkritiken und Novellen.

Gro?e Schwierigkeiten machte ihm die ständig weiter abnehmende Sehkraft. Er konnte nur bei bestimmten Lichtverhältnissen schreiben, auf dickem Papier mit aufgedruckten Linien, wobei er nur jeweils ein Wort optisch wahrnahm. Um die Mitte der 60er Jahre erblindete er völlig, konnte aber - nach einer Operation - von 1868 bis 1881 wieder ein wenig sehen. Danach erlosch sein Gesichtssinn für immer.

Im Jahre 1873 ging Lorm mit seiner Familie nach Dresden. (Auch hierfür sind weder Anla? noch Ursache zu erkennen.) Zwischen 1878 und 1888 schrieb bzw. diktierte er die meisten seiner Romane.

Obwohl Lorm im 16. Lebensjahr sein Gehör eingebü?t hatte, sprach er bis ins hohe Alter deutlich und klar, wie Freunde berichteten. Auch dies legt Zeugnis ab von seiner Energie und Selbstbeherrschung. Um selbst Signale und Kenntnisse von der Au?enwelt zu erhalten, hatte er die Zeichensprache seiner Jugend weiterentwickelt und praktizierte sie mit seiner Familie und Freunden. Viele Artikel, Bücher und selbst Musikstücke lasen seine Frau und Tochter ihm in die Hand.

1892 zog Lorm mit Frau und Tochter nach Brünn, wo sein Sohn Ernst eine Arztpraxis betrieb. Neben Gedichten, wenigen Novellen und einem Roman widmete sich Hieronymus Lorm philosophischen Studien und verfa?te sein diesbezügliches Hauptwerk: "Der grundlose Optimismus".

Hieronymus Lorm starb am 3. Dezember 1902 in Brünn. Ihm wurden einige sehr bedenkenswerte Nachrufe gewidmet, an die anlä?lich seines 100. Todestages angeknüpft werden sollte.

Marie Landesmann, ständige Vorleserin ihres Vaters, fa?te die Zeichensprache, die sie in der Familie und im Freundeskreis zur Verständigung mit dem Vater entwickelt hatten, zusammen und veröffentlichte es im Jahre 1908.

Dr. Ludwig Cohn, ein bekannter Blindenbetreuer und Vordenker des Reichsdeutschen Blindenverbandes, berichtet in seinen Erinnerungen 1957 über die Erfahrungen mit dem Lormen: Es "hat sich neben anderen Tastalphabeten in seiner Anwendung bereits international einen Platz erobert. Lormen besteht aus Strichzeichen und Druckzeichen auf den Handrücken oder auf die Handfläche. Nach einiger ?bung kann so schnell gelormt werden, da? ein mit mä?iger Geschwindigkeit geführtes Gespräch möglich ist. Der Sehende bekommt ein alphabetisches Verzeichnis in die Hand." Es ist eine praktische Hilfe, um die gro?e Isolation der Taubblinden überwinden zu helfen.

Während das schriftstellerische und poetische Werk des Hieronymus Lorm noch seiner Wiederentdeckung harrt, lebt seine Zeichensprache unter den mehreren Tausend Taubblinden im deutschen Sprachraum weiter. Sie sollte von möglichst vielen erlernt werden.


Quelle: 200 Jahre Blindenbildung in Deutschland (1806-2006),
edition Bentheim, 2006, Würzburg

 

 

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