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Laura Bridgman

Günther C. Althans
Dr. Hartmut Mehls

Laura Bridgman
1829-1889

Der Beginn der Taubblindenbildung


Laura Bridgman gehörte zu den berühmtesten Frauen ihrer Zeit und konnte einige Jahre hindurch im Bekanntheitsgrad sogar mit Königin Victoria von Gro? britannien konkurrieren. Sie war für das Bildungsbürgertum der USA und Europas ein Symbol für die unbegrenzten Möglichkeiten der „Neuen Welt“. In den Vereinigten Staaten von Nordamerika lernten selbst die taubblinden Kinder lesen, schreiben und sich in der Gebärdensprache zu verständigen. Heute wird dies - wie vieles Wunderbare - als Selbstverständlichkeit hingenommen. Inzwischen ist auch der Name von Laura Bridgman hinter dem von Helen Keller verbla? t, ja in Deutschland weitgehend vergessen. Hinter dieser Sensation in der Taubblindenbildung verschwanden die schwierigen Anfänge mit Laura Bridgman und über den Erfolg des „Stars“ die Mühen der Lehrer und die Zahl der gescheiterten und zerbrochenen Existenzen. Solche Schicksale werden aus dem Bewuss tsein der Ö ffentlichkeit verdrängt, obwohl sie die überwiegende Mehrheit darstellen. Wären die Leistungen der Helen Keller überhaupt ohne die Erfahrungen möglich gewesen, die im Unterricht mit Laura Bridgman gewonnen wurden?

Erst wenige Jahrzehnte vor der Geburt von Laura Bridgman hatten französische Philosophen und Pädagogen die Bildungsfähigkeit von Gehörlosen und Blinden theoretisch begründet und praktisch erprobt. Bildungsreisende aus Europa besuchten die Einrichtungen in Paris und verbreiteten die Nachricht, dass Blinde und Gehörlose nicht nur bildungsfähig sind, sondern sogar zur „Brauchbarkeit“ im ökonomischen Sinne herangebildet werden können.

Um die Blinden zu bilden und zur bürgerlichen Nützlichkeit zu erziehen, gründeten Menschenfreunde seit 1784, von Paris ausgehend, in Europa und den USA Blindenschulen.

Zu den Pionieren der Blindenbildung in den Vereinigten Staaten gehörte Samuel Gridey Howe (1801-1874). Er lernte auf einer Studienreise Blindeneinrichtungen Europas kennen; seine Aufzeichnungen über diese Reise geben ein Bild vom Entwicklungsstand speziell auch in Deutschland. Auf die Erkenntnisse der „Alten Welt“ aufbauend, steckte sich S. G. Howe neue Ziele. Er wünschte, Taubblinde zu unterrichten. Neben der Frage nach der Bildungsfähigkeit von dreisinnigen Menschen ging es ihm auch um die philosophisch- psychologische Frage: Wie stark wirken die äuß eren Einflüsse auf einen Menschen ein, der nur ein Minimum von sinnlichen Eindrücken wahrnimmt?

Ende der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts suchte Howe, der damals Direktor des heutigen Perkins-Instituts in Boston war, ein taubblindes Kind, um dessen Bildungsfähigkeit zu prüfen. Er betrat damit nicht nur Neuland auf pädagogischem Gebiet, sondern kämpfte auch gegen eine Welt von Vorurteilen an. Dogmatische Vertreter des Christentums in den USA glaubten an ein vorbestimmtes Schicksal jedes Menschen und lehnten deshalb Einwirkungen von Personen oder gesellschaftlichen Institutionen auf einen Lebenslauf ab.

Howe unternahm es, die Auffassung von der Bildungsfähigkeit des Menschen - und damit zugleich seine Bestimmung über sich selbst - unter den schwierigsten Voraussetzungen zu beweisen. Er glaubte fest an dessen Formbarkeit und Eigenverantwortung . Aus dieser Anschauung heraus suchte Howe nach einem Kind, dem die zwei wichtigsten Sinne für die Kommunikation (Gesichtssinn und Gehör) fehlten. Er fand Laura Bridgman.

Laura, die Tochter von Farmersleuten aus New Hampshire, kam am 21. Dezember 1829 als völlig gesundes Kind zur Welt. Mit zweieinhalb Jahren verlor sie durch Scharlach Hörvermögen und Sehkraft, Geschmacks- und Geruchssinn wurden gemindert.

Sie konnte vor ihrer Erkrankung bereits altersgemä? sprechen, verlernte es aber wieder. ? berhaupt blieb von dem nur wenig erhalten, was sie in ihren ersten Lebensjahren aufgenommen hatte, so dass sie den Voraussetzungen, die S. G. Howe für seinen Versuch benötigte, in jeder Weise entsprach, denn sie muss te sich ihre Umwelt als Taubblinde erschließ en.

Im Jahre 1837 holte Howe die achtjährige Laura Bridgman nach Boston. Sie war ein hübsches und lebhaftes Kind, besaß Begabung und eine schnelle Auffassungsgabe. Das hatte sich bereits im Elternhaus gezeigt. Gestützt auf ihren Gefühlssinn, bewegte sie sich allein im Haus und verständigte sich mit Gebärden über die wichtigsten Lebensbedürfnisse. Es ist nicht auszuschließ en, dass aus dem Unterbewuss tsein der frühesten Kindheit Antriebe zur Erschließ ung der Umwelt entsprangen. Wünschte sie zum Beispiel Butter für ihr Brot, so machte sie die Bewegung des Aufstreichens. Sie benutzte für jedes Familienmitglied Zeichen; wenn sie den Vater meinte, strich sie sich über die Oberlippe, weil sein Erkennungszeichen für sie der Schnurrbart war. Laura war in der Lage, kleine Handarbeiten anzufertigen. Offensichtlich förderten Familienmitglieder oder Bekannte das Kind. Denn selbst wenn rudimentäre Erinnerungen angenommen werden, wird sie sich jene Zeichen kaum allein ausgedacht haben.

Das Zusammenleben mit Laura verlief nicht nur in Harmonie, sondern es kam durchaus zu unschönen Szenen. Konnte sie sich nicht ausreichend verständlich machen, dann gab es Wutausbrüche. Der Vater sah sich mitunter genötigt, das Kind durch Züchtigungen zu beruhigen. Sind Schläge auch keine humane Erziehungsmethode, so belegen sie doch, dass das Kind in das Leben der Familie einbezogen war. (Die Eltern hätten das Mädchen auch einfach in einem Nebengebäude der Farm unterbringen können; solche Verhaltensweisen gehören in der Geschichte des Blindenwesens leider nicht zur Ausnahme.)

Lauras Aufnahme in das Perkins-Institut bildete für sie die entscheidende Lebenswende; es war aber zugleich auch der Beginn der Bildung und Erziehung von Mehrfachgeschädigten. Ja, man kann ohne Ü bertreibung sagen, dass damit dieser Zweig der Pädagogik erst seinen Anfang nahm. S. G. Howe hatte für sie das erste Lehrprogramm entworfen. Nicht nur die Blinden- und Gehörlosenpädagogen beobachteten die Fortschritte Howes, sondern auch die gebildeten Kreise der USA und Europas schauten voller Spannung nach Boston. Dementsprechend fanden die Berichte, die der Pädagoge über den Unterricht von Laura anfertigte und deren Erfolge ein lebhaftes Interesse in der Ö ffentlichkeit. Die ersten Schritte seiner Tätigkeit dokumentierte Howe besonders ausführlich.

Die „Enzyklopädie des Blindenwesens“ von Alexander Mell (Wien und Leipzig 1900, S. 135 ff) informiert darüber. In ihr heiß t es, dass Laura als erstes erkennen muss te, dass jeder Gegenstand einen Namen besitzt. S. G. Howe beschritt folgenden Weg, um das Mädchen zu dieser Erkenntnis zu führen: Er „ließ auf kleine Papierstreifen die Namen häufig vorkommender Gegenstände ... in erhabenen, tastbaren Lettern drucken. Er befestigte dann einen solchen Streifen zum Beispiele mit knife (Messer) bedruckten auf ein Messer und lie? einen anderen solchen Streifen lose. Darauf gab er nun Laura das Messer mit dem darauf geklebten Streifen in die Hand, lie? sie das Object und die Lettern betasten. Dann gab er ihr den losen Streifen mit dem Worte knife (Messer) und machte ihr das Zeichen der Gleichheit, indem er ihre beiden Zeigefinger genau nebeneinander legte.“ Bereits am dritten Tage begriff das Kind, dass die Dinge Namen haben und diese durch die Streifen benannt werden. Ihr Verständnis bekundete sie so, dass sie den Streifen mit dem Wort „Stuhl“ zuerst auf einen und dann auf mehrere Stühle legte. Sie bewies damit ein erstaunliches Abstraktionsvermögen, aber auch Geduld. Die Unterrichtsstunden nutzte das Kind offenbar mit Begeisterung, weil sie ihm einerseits die Möglichkeit boten, mit anderen Menschen in nahe Berührung zu kommen und die schreckliche Isolation der Blindheit und Gehörlosigkeit dadurch zu durchbrechen. Andererseits öffneten sich Laura damit auch die Möglichkeiten, ihre Bedürfnisse besser zu artikulieren!

Das Erlernen von Namen wurde zum Spiel. Auch die Erkenntnis, da? jeder erlernte Begriff geschrieben werden kann, schluss folgerte das aufgeweckte Kind relativ schnell. Howes Lehrmethode bestand darin, die gedruckten Papierstreifen zu zerschneiden, so da? jeder Buchstabe einzeln existierte. Anschließ end setzte der Lehrer die Zeichen wieder zum Wortganzen zusammen.

Schwieriger war es, dem Mädchen verständlich zu machen, dass auch jede Tätigkeit einen Namen hat. Eine qualitativ neue Anforderung stellte das Erfassen von Eigenschaftswörtern dar, aber auch das gelang. „Einer der ersten Sätze, welche Laura bildete, als sie die Adjectiva kennengelernt hatte, war 'Smith head sick, Laura sorry' “ (S. 136). Miss Smith war eine der Erzieherinnen, die Laura wegen ihrer Kopfschmerzen bedauerte. War der Satz in Wortwahl und Struktur auch sehr einfach, so konnte er doch verstanden werden, und das Kind vermochte seine Beziehungen zur Umwelt auszudrücken. Die Leistung der Schülerin - aber auch des Lehrers - kann der Laie nur ahnen!

Laura erlernte das Alphabet schnell und gewann Fertigkeit im Lesen. Ihr Verständnis für die Sprache und für das Erfassen der Umwelt nahm zu. Wie langwierig und schwierig das trotz Flei? und Begabung war, zeigt sich darin, dass sie erst im 14. Lebensjahr in der Lage war, kleine Erzählungen zu verstehen und diese wiedergeben zu können. Mit 15 Jahren war sie jedoch so weit fortgeschritten, um selbst eine kleine Geschichte zu verfassen.

Da die Verständigung mit den tastbaren Lettern mühselig und zeitaufwendig war - die Brailleschrift setzte sich erst am Ende ihres Lebens durch -, brachte Howe dem Mädchen die Fingersprache der Gehörlosen bei und ging später zur Ausbildung in der Gebärdensprache über. Vor allem mit der leicht zu erlernenden Fingersprache erhielt Laura die Möglichkeit, sich mit einigen Mitbewohnern des Perkins-Instituts zu verständigen. (Es gab und gibt immer nur wenige in einer Blindeneinrichtung, die sich in dieser Sprache ausdrücken können.) Durch die Schrift sowie durch die Finger- und Gebärdensprache wurde es ihr jedoch möglich, die schreckliche Mauer aus Finsternis und Schweigen wenigstens etwas durchlässig zu machen.

Vor allem durch den aufopfernden Einsatz zweier Lehrerinnen, Miss Swift und Miss Wight, erlangte Laura Bridgman die Fähigkeit, mit ihrer Umwelt zu kommunizieren. Die Lautsprache erlernte sie nie - im Gegensatz zu Helen Keller, die sich sogar in mehreren Sprachen verständigen konnte.

In seinen jährlichen Berichten über das Perkins-Institut fügte S. G. Howe einen Passus über die Entwicklung von Laura Bridgman ein. In denen beschrieb er die angewandten Methoden und deren Ergebnisse, wodurch er das Interesse der gebildeten Welt der USA und Europas auf seinen Versuch aufmerksam machte. Das Schicksal von Laura war durchaus geeignet, Mitleid zu erregen und so die Spendenbereitschaft bei den Besuchern und Lesern der Berichte zu verstärken.

Als Laura Bridgman 20 Jahre alt war und über Grundkenntnisse verfügte, scheint Howe sein Interesse an diesem Fall verloren zu haben; jedenfalls berichtet er nicht mehr über die Taubblinde.

Die Blindenschulen waren seit ihrer Gründung Anziehungspunkte für Reisende und Besucher aus oft wohlhabenden Kreisen, die aus Wissensdrang oder Neugier die Einrichtungen besuchten. Die Nichtsehenden muss ten dann ihre Leistungen mit der stillen Hoffnung vorführen, dass daraus ein materieller Vorteil für die Schule erwächst. Das galt auch für das Perkins-Institut, welches durch Laura Bridgman eine zusätzliche „Attraktion“ besa?. Dem hübschen Mädchen wurde eine grüne Schleife über die Augen gebunden, um ihr Leiden noch zu unterstreichen. Sie beeindruckte, und ihr Schicksal rührte die Besucher.

Zu den berühmtesten Gästen, die das taubblinde Mädchen kennenlernten, zählte der englische Romanautor Charles Dickens, der einen umfangreichen Bericht über die Begegnung verfass te. Aus diesen Aufzeichnungen schöpfte der französische Schriftsteller André Gide die Grundidee für seine Novelle „Die Pastoralsymphonie“.

Das Bild, welches in der ? ffentlichkeit über Laura verbreitet wurde und die Wirklichkeit stimmten nicht überein. Schon Dickens wies auf einige Eigenartigkeiten in ihrem Verhalten hin. Sie war nicht das sanfte und leicht leitbare Mädchen, als das sie in der Ö ffentlichkeit dargestellt wurde. Nicht selten erschöpfte Laura die Lehrerinnen mit ihrer „Widerspenstigkeit“ - wie ihre verzweifelten Ausbruchsversuche aus dem schweigenden Dunkel der Taubblindheit in den Quellen bezeichnet werden. Hin und wieder wurden die Lehrerinnen sogar von ihr gebissen, um wenig später - als wäre nichts geschehen - eng umhalst zu werden. So manches Mal „terrorisierte“ sie auch die anderen Bewohner des Instituts durch unartikulierte Laute, von deren Stärke und Wirkung auf andere Menschen sie selbst wahrscheinlich nichts ahnte. Für Laura gab es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht - schon das allein konnte für die Mitbewohner zur Last werden.

Die Leistungen der Laura Bridgman werden häufig an denjenigen der Helen Keller gemessen. Dabei wird jedoch übersehen: Diese wurde 53 Jahre nach Laura Bridgman geboren, wobei der Unterricht von Helen Keller auf die Erfahrungen des Perkins-Instituts mit Laura aufbauen konnte. Die Kontinuitätslinie von Laura zu Helen ist offensichtlich.

Die Leistungen von S. G. Howe und Laura Bridgman bestehen darin, zum erstenmal nachgewiesen zu haben, dass ein dreisinniger Mensch bildungsfähig ist und im Namen der Menschlichkeit diese Bildung erhalten muss. Selbst wenn die Ergebnisse nicht das Niveau von Laura Bridgman erreichen - mit Hilfe von Pädagogen ist es möglich, auch Taubblinde zu schulen und ihnen ein wenig Freude am Leben zu geben.

Die Neugier der Besucher auf die Leistungen von Laura war gestillt, als diese den Schmelz der Kindheit und Jugend einbüß te und ihre Leistungen nicht mehr als Sensation galten. Um die taubblinde Frau wurde es ruhig. Sie selbst lebte im Heim und fertigte Handarbeiten zum Verkauf an. Auf diese Weise gelang es ihr, ausreichend Geld zu verdienen, so dass sie die Kosten des Heimaufenthalts selbst bestreiten konnte.

Laura Bridgman war einsam geworden und starb im Alter von 60 Jahren 1889 in Boston.


Quelle: Günther C. Althans, Dr. Hartmut Mehls

  

  

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