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Wilhelm Bödeker

Wilhelm Bödeker
Jahrgang 1921

  


  

Der Autor konnte schon vor Schulbeginn schlecht sehen und erblindete zunehmend. Ab der dritten Klasse besuchte er eine Blindenschule, wurde dort zum Stenotypisten ausgebildet und arbeitete als solcher. Seinen Versuch, auf dem zweiten Bildungsweg die Universitätsreife zu erlangen, musste er wegen einer längeren Erkrankung abbrechen. Trotzdem gelang ihm der Aufstieg in ein gehobenes Anstellungsverhältnis. Seit 1981 lebte er - verheiratet - im Ruhestand. Seine Frau starb im Jahre 2001.
Anmerkung des Redakteurs

1999 erwachte meine Frau, nach einer Operation bei tiefer Narkose, stark verwirrt. Das besserte sich. Aber dementielle Auffälligkeiten blieben zurück. Der Arzt riet mir dringend, meine Frau in die Rehabilitation zu begleiten; er habe festgestellt, wir seien eine Symbiose. Die vier Reha-Wochen überstanden wir recht gut. Mir sagt man ein gutes Orientierungsvermögen nach, und das brauchte ich auch. Daheim musste ich Tag und Nacht für meine Frau präsent sein. Das fiel mir auch nicht schwer; denn sie hatte ihre stark ausgeprägte Bescheidenheit und ihr sehr, sehr liebes Wesen mit in ihre Krankheit genommen. Ihre Leichtgewichtigkeit bei 1,50 m Größe erleichterte mir die "Kammerdienertätigkeit" außerordentlich. Putzhilfe war vorhanden, Essen auf Rädern kam, Zubereitung von Frühstück, Abendbrot und heißen Getränken schafften wir gut. Besondere Hilfe waren aber unsere Töchter. Eine von ihnen war am Wochenende für Besorgungen usw. zur Stelle. Meine Frau fing aber wieder an, mir vorzulesen.

Das änderte sich alles im Frühsommer 2000. Zur Morgentoilette, zum Ankleiden und Frühstücken kam eine ambulante Pflegerin. 2001 wurde auch abends eine Hilfe bei der Nahrungsaufnahme erforderlich. Bananen kann ein blinder Pfleger gut zum Munde führen. Aber das Trinken-lassen war schwer. ... Am 1. Weihnachtsfeiertag 2001 starb meine Frau während eines Herzanfalls, in ihrer letzten Stunde von meiner jüngsten Tochter und mir begleitet. Vor einiger Zeit kamen mir Worte von Dietrich Bonhoeffer unter die Finger: „Je schöner und voller die Erinnerung, desto schwerer die Trennung. Aber die Dankbarkeit verwandelt die Qual der Erinnerung in eine stille Freude“. Das habe ich wohl erfahren.

Ich lebe nach wie vor in unserer für einen Blinden gut überschaubaren Drei-Zimmer-Wohnung. Ein nachbarschaftliches Verhältnis zu den übrigen neun Mietparteien besteht begrenzt, bin ich doch der Älteste. Zwei bis drei Adressen in der Nachbarschaft habe ich für Notsituationen. Für zwei Stunden kommt wöchentlich eine Putzhilfe zu mir. Von Montag bis Freitag bekomme ich Essen auf Rädern geliefert. Durch Vermittlung des Besuchsdienstes unserer Gemeinde liest mir an jedem Donnerstag ein etwa 70-jähriger Herr vor. Unsere gemeinsamen Interessen schafften ein freundschaftliches Verhältnis. Fast an jedem Wochenende habe ich eine meiner beiden Töchter bei mir, meistens die Jüngste, in Braunschweig wohnende. Sie ist unverheiratet, seit sechs Jahren niedergelassene Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie und ist in der Zeiteinteilung unabhängig. Sie besitzt Bankvollmacht. Wenn Almut wegen Fortbildung oder Urlaub nicht kommen kann, versucht ihre ältere Schwester Christine einzuspringen. Wegen ihrer Familie, der Tätigkeit als Lehrerin einer Gesamtschule und der größeren Entfernung zu Hannover ist das schwierig. Dafür besuche ich hin und wieder die Familie. Im Übrigen reflektiere ich nicht auf wöchentlichen Besuch. Mein Gesundheitszustand ist zufriedenstellend. Kinder und Enkelinnen sind erfreut über meine Marschleistungen. Neuerdings besitze ich ein Blutdruckmessgerät mit Sprachausgabe und weiß seitdem, dass die bei gelegentlichen Arztbesuchen vorgenommenen Messungen nur wenig aussagekräftig sind. Seit vielen Jahren habe ich Schlafstörungen und komme ohne Medikamente nicht aus. Ärgerlich empfinde ich das Nachlassen meiner Schreibleistung sowohl auf der normalen, wie auch auf der Blindenschriftmaschine - kaum noch vorstellbar, dass ich mal 200 Silben in der Minute schrieb. Meine Tochter Almut hält aber Defizite der Motorik in meinem Alter für normal.

Das Radio spielt in meinem Tagesverlauf eine gewisse Rolle. Blindenschrift lese ich nicht mehr viel. Meine Stereoanlage ist ergänzt durch Plattenspieler, CD-Player und Doppeldeck. Schallplatten, Cassetten und vor allem CDs stehen mir reichlich zur Verfügung. Almut sorgt dafür, dass ich kulturell nicht unterversorgt bin. Sie studierte zuerst Literatur- und Musikwissenschaft, bis sie für sich feststellte, dass das nur ein Hobbystudium sei. Ihre Liebe zur Musik und Literatur ist geblieben, und davon profitiere ich. Meine CDs mehren sich. Wenn zeitlich einzurichten, entführt sie mich ins Opern- oder Schauspielhaus. Vor allem im Urlaub liest sie mir wie ihre Mutter vor, schnell und sehr gut.

Bei allem positiven, was ich aufzählte, ist mir klar, dass die persönliche Welt für einen alternden Menschen leerer wird: Kollegen und Freunde sterben oder sind schwer krank, jüngere Geschwister sind tot, die älteste Schwester lebt in einem Altersheim. Ich lernte einige Alteneinrichtungen kennen und hoffe, noch lange in meinem Heim bleiben zu dürfen.

  

  

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