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Hans Cohn

Hans Cohn
Jahrgang 1923

  


Ich mache weiter

       

Was ist "Ruhestandsalter", was ist überhaupt "Ruhestand“? Ist es das Alter, in dem das Gesetzt sagt: "Von nun an brauchst du nicht mehr zu arbeiten und bekommst deine Altersrente", oder der Zeitpunkt, in dem man sagt: "So, jetzt mache ich Schluss, setze mich zur Ruhe"? Ersteres ist sowieso "a moveable feast", wie man auf englisch sagt, ein bewegliches Fest; denn in einer Zeit, in der, wenigstens in den Industrieländern, die Anzahl der Rentner steigt und die der Arbeiter kaum Schritt hält, wird das gesetzliche Rentenalter in den nächsten Jahrzehnten steigen müssen, für Behinderte ebenso, wie für nicht Behinderte.

Und "Ruhestand" ist natürlich ein flacher Begriff, ebenso wie auf englisch "Retirement" gleich "Zurückgezogenheit". Was ist es für eine "Ruhe", wenn man sich ständig an neue Probleme anpassen muss, z.B. mit der Gesundheit seiner eigenen und/oder der Person, mit der man zusammenlebt? Ich wohne in London und muss mich daher neuerdings - Juli 2005 - an die Zustände gewöhnen, welche die irregeführten Selbstmordbomber verursachen: Man ist allgemein nervös; ein verdächtiges Paket wird in einem Zug oder auf einem Bahnsteig gefunden, und das ganze U-Bahnnetz wird stundenlang stillgelegt. Als der Brasilianer vor der Polizei in die U-Bahn flüchtete und "versehentlich" erschossen wurde, strömten die Reisenden vor Angst aus dem Zuge, und der Fahrer, womöglich ein Muselman, flüchtete in den Tunnel!

Aber nun endlich zu meinem Thema: Ich bin 84 und arbeite immer noch. Ich bin Physiotherapeut mit einer Privatpraxis im eigenen Haus, kann mir also die Arbeit gewissermaßen zu meiner eigenen Bequemlichkeit einrichten. Die alten Patienten kommen weiter, und wenn man im Telefonbuch steht, kommen auch ab und zu neue hinzu. Wer kann heutzutage ein zusätzliches Einkommen verschmähen? Das nimmt allerdings viel weniger Zeit in Anspruch als früher, so dass ich meine außerberuflichen Tätigkeiten gut fortsetzten kann.

Meine ehrenamtlichen Pflichten habe ich weiter pünktlich wahrgenommen. Ich war seit 1982 Redakteur der vierteljährlichen Verbandszeitschrift des britischen Blindenselbsthilfeverbandes "Viewpoint", bis ich diese Tätigkeit und damit auch mein Vorstandsamt im Jahre 2006 aufgab. Ich bin aber noch in verschiedenen Angelegenheiten für den Verband tätig.

Da ich im Augenblick das einzige in London wohnhafte Vorstandsmitglied bin, vertrete ich den Verband in mehreren Gremien, wie z.B. im Ausschuss für die englische Blindenschrift, dem Ausschuss für englische Blindenschrifthersteller, der Nationalen Organisation für Caritative Verbände und der "Stimme der (Rundfunk) -Seher und –Hörer", in den letzteren beiden für die besonderen Interessen der Blinden und Sehbehinderten.

Seit über dreißig Jahren bin ich im Verwaltungsrat des "Royal National Institute of the Blind" und in mehreren seiner Ausschüsse tätig. Das bedeutet häufige Reisen in die Londoner Stadtmitte, die ich mit der U-Bahn in höchstens dreißig Minuten erreichen kann. Das geht alles (in normalen Zeiten) mit meinem Führhund glatt vonstatten.

Das alles bedingt natürlich ein gute Gesundheit, der ich mich glücklicherweise erfreuen kann. Mein Hund sorgt dafür, dass ich viel spazieren gehe; denn auch Führhunde müssen öfter frei laufen können. Außerdem nehme ich noch jeden Winter einen vierzehntägigen Langlaufkurs auf Skiern in der Schweiz.

Neben meiner Vollblindheit bin ich auch stark hörbehindert. Aber dank der neuen digitalen Hörgeräte hat sich dieses Leiden eher verbessert, denn verschlechtert. Hier kann ich nicht umhin, der deutschen Sprache ein Kompliment zu machen. Sie ist die einzige, von den halbdutzend, die ich kenne, die für Blinde, welche auch schwerhörig sind, den Begriff "blind/hörbehindert hat". In England werden solche Menschen einfach "taubblind" genannt. So gelte also auch ich als taubblind, was natürlich nicht zutrifft und wogegen ich stark ankämpfe, wie sich vielleicht viele meiner Zuhörer bei den Seniorenseminaren erinnern können, an denen ich teilgenommen habe.

Meine Freizeittätigkeiten, denen ich natürlich mehr Zeit widmen kann, sind hauptsächlich Musik und Schach. Sie beide fördern das Gedächtnis. Als blinder Klavierspieler muss man seine Noten auswendig lernen, und als Schachspieler muss man auch viele Eröffnungsvariationen sowie Mittel- und Endspielstrategien im Kopf haben. Weil unser Blindenschachbund nicht genug jungen Zuwachs hat, war ich noch vor zwei Jahren in der englischen Mannschaft zum Sechsländerkampf in Bad Oeynhausen und bin nach fünf Partien ungeschlagen zurückgekehrt. Aber im Schach betrachte ich mich hauptsächlich als Medienversorger für unseren Blindenschachverband: Ich übersetze Auszüge aus der deutschen "Schachbrücke", hauptsächlich Artikelserien, direkt auf das Tonband. Diese werden dann in der Hörbücherei des Verbandes allen Mitgliedern zur Verfügung gestellt. In diesem Jahr feierte der Verband sein 75-jähriges Bestehen mit der Veranstaltung der IV. Offenen Europäischen Blindeneinzelmeisterschaft in einer nordenglischen Universität mit 77 Teilnehmern aus 23 Ländern mit großem Erfolg: Das Spielniveau war das bis jetzt höchste im Blindenschach. Als ehemaliger Präsident des Internationalen Schachbundes und Veranstalter der dritten Blindenschacholympiade 1968 hatte ich diese Veranstaltung mit vorbereitet. Jetzt bin ich dabei, das Gedenkbuch darüber mit einer ausgiebigen Auswahl der 342 Partien (mit Kommentar) zu verfassen, allerdings nur im Audioformat.

Wenn bei alldem noch Zeit übrig bleibt, lese ich. Ich bin Mitglied mehrerer Hör- und Punktschriftbüchereien in England, Deutschland und Amerika und lese auch noch ab und zu ein französisches Buch - schließlich war ich fünf Jahre lang auf dem (Berliner) Französischen Gymnasium. Eine Wand meines Arbeitszimmers ist vom Fußboden bis zur Decke mit englischer und deutscher klassischer Literatur, hauptsächlich Gedichten, belastet. Ich habe den Bücherbestand von Dr. Herbert Knorr "geerbt", der noch vielen Lesern bekannt sein dürfte.

In den letzten Jahren hat sich unsere Lage wesentlich verändert:

Meine Frau, die trotz ihrer Retinitis Pigmentosa noch recht gut sah, ist inzwischen vollständig erblindet. Das bringt natürlich neue Probleme. Im Haus geht es noch ganz gut. Sie kann Ihre Pflichten weiter erfüllen. Wir können aber ohne Begleitung nicht zusammen aus dem Haus; denn sogar ein Führhund ist nicht darauf abgerichtet, zwei Personen zu führen. Wir haben viele Bekannte, die uns helfen. Aber Sie sind auch schon meist im Seniorenalter, und Helfer sind nicht immer Freunde, mit denen man z. B. Ferien verbringen kann. Das letzte Mal, dass wir zusammen verreist waren, war das Seniorenseminar im Jahre 1997. Meine größte Sorge ist, dass meine Frau oft genug an die frische Luft kommt, die es glücklicherweise auch in London zugenüge gibt.

Wer diese Zeilen bis jetzt gelesen hat, wird verstehen, warum ich den Begriff "Ruhestand" befragt habe. Ich weiß, dass in meinem Alter jeder neue Tag der letzte sein kann. Bis dahin mache ich weiter, so gut es geht.

Herr Cohn ist im Alter von 11 Jahren erblindet. Er besuchte das Französische Gymnasium in Berlin. In der dortigen Aula gab es eine Schlägerei zwischen einem Hitlerjungen und einem Juden, bei der Herr Cohn als Unbeteiligter einen Schlag ins Auge bekam. Er durfte, obwohl gleichfalls Jude und jetzt auch blind, die Schule noch bis zur Obertertia weiterbesuchen, da sein Vater Frontkämpfer im ersten Weltkrieg gewesen war und Studiendirektor Rötig sich für ihn einsetze.
Frau Cohn brachte Ihren Sohn im Jahre 1938 in eine englische Blindenschule und kam im Jahre 1939 gleichfalls nach England, während
sein Vater in Deutschland blieb und Opfer des Holocaust wurde.
Anmerkung des Redakteurs

  

  

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