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Prof. Dr. Willi Finck

Prof. Dr. Willi Finck
Jahrgang 1923

  


Vom Blindsein und von der Kunst des Alterns

       

"Die Kunst des Alterns", betitelte Klaus Möllering einen, von ihm herausgegebenen, Sammelband. Wie finde ich mich in den Gedanken der Beiträge dieses Buches wieder? Wie wurde und werde ich dieser Kunst im Sinne des Umgangs mit dem Altern, im Sinne seiner Bewältigung gerecht? Zwar ist die "Kunst des Alterns" eine lebenslange Aufgabe, weil sich mit den verändernden Lebenserfahrungen auch die Einstellung zum Altern ändern. Meine Erfahrungen bestätigen mir, dass die Reflexionen blinder Menschen im Blick auf ihr Altern auch im dritten Lebensabschnitt außerordentlich verschiedenartig sind und daher stets relativiert werden müssen. Ich beziehe mich in diese Betrachtungen mit ein, wenn ich sage, dass mir meine Lebenspraxis die ausgeprägte Individualität des Umgangs mit dem Altern zeigt. Hierbei sind es die vielfältigen Sichtweisen, mit dem Altern fertig zu werden. Ihre Beeinflussung kann durch solche Faktoren erfolgen wie das unterschiedliche Lebensalter, den früheren Beruf, die familiären Verhältnisse, Charaktereigenschaften, durch zum Optimismus oder Pessimismus tendierende Einstellungen, durch die Art und den Grad der Beschädigung, durch die Mobilität, durch Selbstvertrauen oder durch den Gesundheitszustand. Von solchen Faktoren hängt auch ab, in welchem Maße ein Mensch die Blindheit angenommen hat, mit ihr innerlich "Frieden" geschlossen hat, die Blindheit nicht als Lebenslast empfindet, obwohl sie im höheren Alter zusätzliche Lasten aufbürdet. In diesem Sinne wurde sie von dem Kriegsblinden Alfred Lauster als eine Art "zweite Blindheit" bezeichnet. Obwohl ich, seit einigen Jahren im neunten Lebensjahrzehnt angekommen, zu jenen Blinden gehöre, die sehr optimistisch die Blindheit angenommen haben, respektiere ich jede andere Lebenseinstellung eines blinden Menschen. Dies schon deshalb, weil es kaum mein eigener Verdienst ist, einigermaßen gesund und mobil zu sein und mit dem mir gegebenen Optimismus mein Leben zu meistern. Naturgemäß weiß auch ich nicht, was der morgige Tag bringt.

Schaue ich gesellschaftlich und politisch in die Zukunft, so bin ich - mehr noch als früher - skeptisch und prüfend, wenn es sich um die Perspektive einer sich im Geflecht der Globalisierung befindlichen Welt handelt. Aber dennoch werde auch ich als politisch denkender Mensch gezwungen, mich mit der Gegenwart und Zukunft auseinanderzusetzen.

Hierbei stellte ich mir die Frage nach der Rolle des Zweifels als Erkenntnismethode zur geistigen Erfassung dieser Umwelt. Ich erinnerte mich der Gedanken des bedeutenden französischen Schriftstellers und Philosophen Denis Diderot, der einmal sagte: "Der erste Schritt zur Philosophie ist der Unglaube, der Zweifel." Mit diesen Worten begann ich damals meine Einführungsvorlesung zum Philosophiestudium vor Studenten. Darf man zweifeln, soll man zweifeln? Ich überlege heute, ob mir der Zweifel im philosophischen Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des gesellschaftlichen Lebens weiterhilft. Wirkt er im Erkenntnisprozess konstruktiv oder destruktiv? Ich versuchte und versuche ihn nach Diderot nur als den ersten Schritt zum philosophischen Verständnis der Welt aufzufassen, gehe aber auch den zweiten im Sinne seiner konstruktiven Funktion. Hiermit bewege ich mich hin auf den Boden der Parteilichkeit, verstanden als optimale Annäherung an die Objektivität von Auffassungen. So wäre ich wieder im praktischen gesellschaftlichen Leben unserer Tage angekommen, dem ich mich, verbunden mit Lebenserfüllung, auch im höheren Alter zuwende.

Wenn ich aus der Sicht eines älteren Menschen mein persönliches, berufliches und gesellschaftliches Leben Revue passieren lasse und dabei einen Blick von der Gegenwart in die Zukunft wage, oft mehr fragend als aussagend, so stelle ich fest, dass es Höhen und Tiefen, dass es besondere Situationen gab, die auf ihre Weise mein Leben prägten, die mir Bürde und Erleichterung waren, die sich mehr oder weniger schwer auf die Lösung individueller Lebensaufgaben auswirkten bzw. auswirken.

Das Ende des Zweiten Weltkrieges und die durch den Krieg verursachte Erblindung brachten für mich gravierende Veränderungen mit sich. Damals hatte ich relativ schnell die psychische Last der Blindheit überwunden und den weiteren Weg meines Lebens im Dunkeln gefunden. Hinzu kam, dass ich jung war und die Kraft fand, zukunftsfreudig das jeweils Mögliche der individuellen Perspektive im Rahmen des gesellschaftlichen Ganzen zu verwirklichen. So auch, als ich erblindet aus dem Krieg zurückgekehrt, mich für sozialistische Ideale begeisterte und entschied, eine Gesellschaft mitzugestalten, die mehr Gerechtigkeit und eine friedliche Zukunft verhieß. Als umgeschulter Bürstenmacher trat ich damals in die SED ein. Diese Entscheidungen hatten für mein künftiges Leben prägende Bedeutung: politisch-ideologisch, moralisch und humanitär.

Eine Lebensentscheidung, die weniger weit zurückliegt, drängte sich mir durch die Wende und die Nachwendejahre auf. Sollte ich, der ich Jahrzehnte auch politisch aktiv war, jetzt der Politik entsagen? Sollte ich mich nun in den politischen Schmollwinkel zurückziehen? Die Entscheidung fiel mir zunächst nicht leicht, mich auch weiterhin gesellschaftlich zu engagieren, mich politischen und moralischen Erfordernissen unserer Zeit zu stellen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft differenziert zu beurteilen. Die neuen gesellschaftlichen Realitäten zwangen mich, frühere gesellschaftspolitische Positionen zu überprüfen, zu korrigieren oder zu verwerfen. Dieser Umdenkungsprozess war nicht nur in rationaler, sondern auch in psychischer und emotionaler Hinsicht kompliziert. Wenn mir gegenwärtig das subjektiv Erkennbare und mein Differenzierungsvermögen im Blick auf Vergangenheit und Zukunft etwas erleichtert wird, so durch meine Entscheidung, mich den gesellschaftlichen Problemen bewusst zu stellen und mich mit ihnen auseinanderzusetzen. Hier entsteht die Frage nach meiner persönlichen Verantwortung. Ich ging und gehe davon aus, dass die Welt nicht vorwiegend von Skeptikern und Rückversicherern verändert wird, sondern von denen, die etwas wagen, sicher auch in Unkenntnis mancher gesellschaftlicher Zusammenhänge. Ohne den Aspekt dieses individuellen Erkenntnisstandes und der gegebenen Verantwortungshierarchie kann weder der Umfang der Verantwortung noch der der persönlichen Schuld bestimmt werden. Letztere akzeptiere ich für mich insoweit, als ich, von der Richtigkeit einer sozialistischen Entwicklung überzeugt, nicht kritisch genug war und nicht genügend getan habe, mich gegen schon bekannte negative politische Erscheinungen zu wenden.

Im Rahmen der mir gegebenen Möglichkeiten, in Gesprächen und Publikationen versuche ich, geistige Barrieren abbauen zu helfen. Dabei schöpfe ich aus meinen beruflichen und ehrenamtlichen Erfahrungen. Die mit meiner Publikationstätigkeit verbundene Hobbyforschung bringt mir Freude und ist Teil meiner Lebenserfüllung. Sie ist geistig produktiv und geht über die wichtige rezeptive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hinaus. Dabei befriedigt es mich, humanistisches Gedankengut zu bearbeiten und Resultate in Zeitschriften des Blindenwesens sowie in Fachzeitschriften zu veröffentlichen. Über dies hinaus publizierte ich seit 1998 drei Monographien: 1998 "Leben jenseits des Lichtes", 2000 "85 Jahre Blindenkur- und Erholungsfürsorge an deutschen Küsten", 2005 "Zwischen Licht und Schatten - Kriegsblinde in der DDR"; eine weitere Publikation befindet sich in Vorbereitung.

Es leuchtet ein, dass mit der Erstellung dieser Veröffentlichungen ein beträchtlicher Arbeitsaufwand verbunden war. Es wird auch die letzte Monographie sein, die ich zu bearbeiten in der Lage bin, denn ich spüre, dass das zunehmende Alter einen rationellen Umgang mit den noch vorhandenen Kräften erfordert. Zwar ist "Die Kunst des Alterns" nach Klaus Möllering eine lebenslange Aufgabe, aber im höheren Lebensalter stellt sie Anforderungen auf besondere Weise. Man muss loslassen können von bisher gewohnten Arbeitspensen und -rhythmen, denn Aufhören ist eine Kunst, die man immer neu einüben muss. Den schmalen Pfad der Freiheit, den die dritte Lebensphase bietet, wird man kaum entdecken, wenn man einfach weitermacht wie bisher. Nach dieser Einsicht zu handeln, fällt auch mir schwer. Mit dieser Schwierigkeit verbindet sich das Erfordernis, die vorhandenen Kräfte auf Wesentliches einzuschränken, um das verbleibende Tätigkeitsspektrum in bisheriger Qualität geistig zu erfassen. Hierbei gibt es Faktoren, die mir die Kraft gaben und mich in die Lage versetzten, diese Aufgaben zu bewältigen. Ich nenne die mit meiner früheren beruflichen Forschungsarbeit verbundene Freude an dieser Tätigkeit. Es kommt ein weiteres hinzu: Wenn ich über die Lebenslage, die Probleme und Bedürfnisse anderer Menschen nachdenke und versuche, diese wieder anderen Menschen in Gesprächen oder auch in Publikationen näher zu bringen, bzw. ihren Interessen gemäß zu handeln; wenn ich mir bewusst mache, dass sich viele Menschen in einer noch schwierigeren Lage befinden als ich, so denke ich gleichzeitig von mir und meiner Behinderung etwas weg.

Nach dem Tod meiner Ehefrau 1994 befielen mich zuweilen Gedanken, die auf das Alleinsein gerichtet waren. Sie wurden verstärkt durch das Fehlen der Mitverantwortung für das Wohl des Lebenspartners. Diese Mitverantwortung wirkte immer als Stimulus meines Handelns. Wissend, dass Religiosität zwiefach Orientierung und Halt verleiht: in der Verantwortung vor Gott und vor den Menschen. Doch gab und gibt mir meine weltlich humanistisch geprägte Verantwortung für den Menschen jene Kraft, um auch als Blinder die Widrigkeiten des Alterns zu bewältigen - dies auch im Blick auf durchlebte schwierige Situationen in meinem höheren Alter.

War es Zufall, Glück oder ein Geschenk meines späten Lebens, dass mir eine Frau begegnete, die zu mir passt, die mich angenommen hat, so wie ich bin? Ich denke, es war ein glücklicher Zufall und ein Geschenk zugleich, dass mir meine Thea begegnete. Unsere Interessen harmonieren auf vielfältigste Weise, wir tauschen unsere Gedanken aus, lesen zusammen, hören Musik, spaßen miteinander und empfinden eine tiefe Freude darüber, dass wir uns gefunden haben. Was gibt es Schöneres und Wertvolleres, als in Harmonie, Wärme und Geborgenheit zusammen mit einem lieben Menschen das Alter zu genießen.

  

  

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