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Maria Herrmann

Maria Herrmann
Jahrgang 1932

  


  

Ruhestand

Zugegeben: ich hatte große Bedenken, Sorge und auch wohl ein bisschen Angst vor dem Ruhestand; immerhin war mein bisheriges Leben lange Jahrzehnte hindurch erfüllt von der Arbeit an der Blindenschule. Was würde mir bleiben, wenn das alles wegfiel? Würden die Tage nicht lang und leer werden? Zwar versicherten Kollegen und Bekannte das Gegenteil; aber sie hatten Familie, und vor allem: sie konnten sehen. Eine alleinstehende blinde Frau jedoch - und dann kam alles doch ganz anders: Seit dem ersten Tage meines Ruhestands gab es weder Leere noch Langeweile. Die Tage sind so erfüllt, dass ich mich zuweilen frage, woher mir früher die viele Zeit kam für den, zwar sehr geliebten, aber doch anstrengenden Schuldienst. Und doch lebe ich keineswegs im heute so oft beschworenen Unruhestand. Auch ist mein Terminkalender, den ich mir übrigens in Punktschrift selbst anfertige, durchaus nicht überladen, sondern bietet im Gegenteil reichlich Platz. Stress ist und bleibt für mich ein Fremdwort: ich gehe ihm geflissentlich aus dem Weg und er mir gewöhnlich auch. Heute kann ich großzügig über meine Zeit verfügen und mich den Dingen zuwenden, die bisher wegen Zeitmangels mehr oder weniger zurückstehen mussten.

Im Gegensatz zu den meisten Ereignissen unseres Lebens ist der Ruhestand weitgehend vorherzusehen, so dass man sich in etwa darauf vorbereiten kann. So hatte ich mir eine Art Wunschliste aufgestellt, die dann jedoch in der Wirklichkeit ihr eigenes Schicksal hatte: Einiges wurde bald verworfen, Anderes war begonnen, entwickelte sich dann aber durchaus nicht so, wie erwartet und gewünscht.

Als erstes wollte ich Unterricht in Mobilität nehmen. Aber zwei Kollegen, die ich darum bat, erklärten kurzerhand, ich sei zu alt dafür (Anmerkung des Redakteurs: Auch ältere Menschen, sogar solche, die erst im Alter erblinden, können noch Unterricht in Orientierung und Mobilität nehmen). Enttäuscht und frustriert erinnerte ich mich an meinen alten Wunschtraum von einem Führhund; ich mag nämlich Tiere sehr gern. Aber dann dachte ich an den Winter, an Regen und Sturm, an Schnee und Glatteis, an Grippe und Fieber - und der Hund müsste raus, mindestens zwei Mal am Tag. So habe ich den Traum vom Hund begraben und nehme weiterhin dankbar die freundliche Begleitung von guten Freunden und Nachbarn zu mehr oder weniger ausgedehnten Spaziergängen an.

Dies ist auch der Fall, wenn ich etwa drei Mal im Jahr für einige Wochen in meine Heimat, auf den Hunsrück fahre, wo in meinem Elternhaus die alte Wohnung meiner Kindheit auf mich wartet. Gleich beim Haus beginnt ein 2,5 km langer, wunderschöner Weg, der durch Wiesen, Wald und Felder führt, den ich ganz allein gehen kann, wann immer ich dazu Lust habe.

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, viel zu verreisen. Aber nach einigen Unternehmungen, die mir auch Freude gemacht haben, empfinde ich inzwischen doch die Umstände und Anstrengungen solcher Reisen zu aufwendig und begnüge mich lieber mit dem Wechsel zwischen Stadt und Heimatdorf. Oft werde ich gefragt, wo ich am liebsten bin. Die Antwort ist einfach: im Sommer ist es schöner auf dem Land, im Winter dagegen in der Stadt, hauptsächlich wegen der Theater und Konzerte, die ich oft und gern besuche.

Auf der Wunschliste für den Ruhestand war auch meine schöne Küche eingeplant, die nun endlich zu voller Geltung kommen sollte. Nichts Geringeres hatte ich vor, als ein ganzes dickes Kochbuch nacheinander durchzuprobieren. Aber wie bald verlor ich die Geduld! Da ich auf diesem Gebiet recht wenig Übung und Erfahrung hatte, brauchte ich so viel Zeit, die ich als sinnlos verschwendet ansah: was hätte man in dieser Zeit alles lesen können! Stapel von Zeitschriften und Büchern wateten auf mich, und die Kataloge der Punktschriftbüchereien enthielten die verlockendsten Angebote. So verschenkte ich kurzerhand das vierbändige Kochbuch, samt einer umfangreichen Mappe mit gesammelten Rezepten, bestellte beim Roten Kreuz Essen auf Rädern und begnüge mich mit der Zubereitung von Frühstück und Abendbrot. In der großen Wohnung bleibt immer noch genug an Hausarbeit, trotz der Putzhilfe, die jede Woche für zwei Stunden kommt. Vor allem wollen meine vielen Blumen und Pflanzen regelmäßig versorgt und gepflegt werden.

Ein lange gehegter Wunsch, der aus Zeitmangel immer wieder aufgeschoben werden musste, war das Auffrischen und Erweitern meiner Fremdsprachenkenntnisse. Ich wollte unbedingt französische und englische Literatur im Original lesen, vielleicht auch etwas Latein. So besorgte ich mir gleich zu Anfang meines Ruhestands ein französisches Lehrbuch und begann mit großem Eifer zu arbeiten. Mitten im besten Zug besuchte mich ein Ehepaar mit seinem Sohn, der einen Arbeitskreis für Studenten aufgebaut hatte, in dem, je nach Wunsch und Angebot, Themen aus verschiedenen Wissenschaftsgebieten vorgetragen und gesprochen wurden. Er bat mich, in diesem Kreis einen Vortrag über einen Musiker zu halten. Nach einigem Bedenken meinerseits und eifrigem Zureden, einigten wir uns auf Brahms. Allerdings verlangte ich eine längere Vorbereitungszeit. Schließlich hatte ich so viel Material zusammen, dass es für mehr als zwei Abende reichte. Das Französischbuch musste ich zur Seite legen und konnte es bis heute nicht wieder aufnehmen; denn dem Brahms-Vortrag folgten weitere Vorträge zu musikalischen, literarischen und religiösen Themen, auch außerhalb des Arbeitskreises. (Anmerkung des Redakteurs: Auch in den Seminaren der Ruheständler des DVBS hat Frau Herrmann dankenswerter Weise mehrfach sehr interessant referiert.)

Da ich an religiösen Themen schon immer interessiert war, nutzte ich begeistert das Angebot des Deutschen Katholischen Blindenwerks, das die 24 Lehrbriefe eines theologischen Fernkurses in Punktschrift übertragen ließ. Zum Selbststudium gehörten Begleitzirkel, die auch an meinem Wohnort 14-tägig stattfanden. Ferner wurde eine schriftliche Hausarbeit verlangt sowie eine Studienwoche mit mündlicher Prüfung, in Hamburg. Diese Studienwoche war besonders schön für mich. Ich war die weitaus Älteste und die einzige Blinde, in einem Kreis junger Frauen und dort, trotz meiner Behinderung, so selbstverständlich und herzlich aufgenommen, wie ich es vorher nie erlebt hatte. Mit meinem Orgelspiel zu den Gottesdiensten konnte ich mich ein wenig dankbar erweisen.

Aber nicht nur in Hamburg, sondern auch sonst, bietet sich immer wieder Gelegenheit zum Orgelspiel, das ich vor meiner Lehrerausbildung erlernt hatte. Zunächst war es die evangelische Kirchengemeinde, die mit ihren vielen Außenstellen Mangel an Organisten hatte. Seit einigen Jahren spiele ich regelmäßig an Sonn- und Feiertagen in der Kirche der Rheinischen Landesklinik. Die Lieder zu den Gottesdiensten suche ich, anhand der liturgischen Texte, selbst aus (alles in Punktschrift gedruckt!). Da ich auch gern Werke der großen Meister spiele, muss ich zu Hause tüchtig üben. Das geschieht auf einer elektronischen Orgel. Diese Instrumente sind heute technisch so gut entwickelt, dass sie dem echten Orgelklang sehr nahe kommen und man alles darauf spielen kann. Das Auswendiglernen der (Punktschrift-) Noten sehe ich als gutes Gedächtnistraining, womit ich mir die vielgerühmten Kreuzworträtsel und ähnliche Scherze ersparen kann. Zu Zeiten spiele ich jedoch lieber auf dem Flügel. So muss die Orgel zurückstehen. An beiden Instrumenten gleichzeitig zu arbeiten, ist mir noch nie recht gelungen.

Neben dem eigenen Musizieren kommt das Musikhören leider oft zu kurz. Ich besitze eine große Auswahl an Tonbändern, Schallplatten, Kassetten und CDs, alles schön geordnet, punktbeschriftet und katalogisiert. Man müsste einfach noch mehr Zeit haben!

Wie schon angedeutet, spielt die Literatur eine wichtige Rolle in meinem Leben. Jetzt kann ich endlich frei entscheiden, was ich lesen möchte; denn das war während der Studien- und Berufszeit nur ausnahmsweise der Fall. Seit meinem 7. Lebensjahr bin ich begeisterte, manchmal auch besessene Punktschriftleserin. Zwar habe ich mir auch immer gern vorlesen lassen. So habe ich denn auch die erste Hörbücherei freudig begrüßt, und bis heute bin ich ihre eifrige Kundin. Aber es geht mir nichts über das eigene Lesen, und ich ziehe noch immer die in Punktschrift übertragenen Bücher den auf Band gelesenen bei Weitem vor. Die häufig zu hörenden Klagen über eine zu geringe Auswahl an Punktschriftliteratur, kann ich nur teilweise verstehen. Gewiss gibt es nicht immer gleich das Allerneueste; aber zum einen ist das Neueste nicht unbedingt auch das Beste, zum andern ist das vorhandene so reichhaltig, dass ein ganzes langes Leben nicht ausreicht, um all das zu lesen, was die Punktschriftbüchereien anbieten. Jedenfalls ist meine Wunschliste noch lange nicht erschöpft. Außerdem lese ich ein gutes Buch auch gern ein zweites oder ein drittes Mal. Wie anders liest man doch ein Buch mit 70, als mit 17 Jahren! Mit großer Sorge verfolge ich die Bestrebungen einiger sehender Blindenpädagogen, die mit unverzeihlichem Unverstand die Punktschrift als überholt und überflüssig erklären wollen. Mir vergeht kein Tag ohne Punktschrift, und ich kann mir mein Leben ohne sie nicht vorstellen. Daran ändert sich auch nichts durch das sprechende Lesegerät, das mir zwar eine unentbehrliche Hilfe geworden ist, um die Post zu lesen. Ich besitze es seit sechs Jahren, habe aber bisher nur vier Bücher, allerdings umfangreiche, damit gelesen. Eigentlich wäre eine Braillezeile fällig; ich sollte mich wohl bald zu ihrer Anschaffung entschließen. Dagegen gedenke ich auf Internet, E-Mail u.ä., weiterhin zu verzichten.

An moderner Technik bin ich also nur mäßig interessiert. Wichtig ist mir ein gutes Stereogerät. Mit einer Digitalanlage kann ich unzählige Rundfunk- und Fernsehsender in CD-Qualität empfangen. Letztere höre ich so gut wie gar nicht, erstere immer seltener. Liegt es an mir, an meinem Älterwerden, dass mir die vielen Programmangebote immer dürftiger erscheinen?

Mein Handy nehme ich nur unterwegs mit, für den Notfall. Das Telefon hingegen spielt eine bedeutende Rolle in meinem Leben. Es schafft Verbindung und Nähe, auch über große Entfernungen, die sonst schwer zu überbrücken wären: mit Verwandten und Freunden, ehemaligen Schülern und Mitschülern und so fort.

Was wäre noch zu erwähnen? Ab und zu etwas schreiben, wie zum Beispiel den vorliegenden Beitrag, Aufsprachen für Hörzeitschriften, Besuche und Gegenbesuche, Veranstaltungen des Blindenvereins, eine ökumenische Woche im Westerwald ... .

Nach und nach fange ich an aufzuräumen, zu ordnen, zu sichten und zu entsorgen: Briefe, Notizen, Bücher, Musikalien ... . Es ist eine Riesenarbeit, die mich noch eine gute Weile beschäftigen wird, und das Loslassen wird mir nicht leicht. Aber die Zeit läuft davon, der Faden spult sich ab, und irgendwann ist das Ende erreicht. Bis dahin bin ich dankbar für jeden Tag, der mir noch geschenkt ist.

  

  

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