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Fritz Zinner

Fritz Zinner
Jahrgang 1912

  


  

Nachtrag zu meinem ersten Bericht

Versuch, ohne Angst zu leben

Rückblick

Die, zum Schluss meiner Ausführungen in der ersten Auflage erhobene Frage, ob die Angst (gemeint ist nicht etwa Furcht vor göttlichen Wesen o.ä.) als Ursache unseres Alterns anzusehen sei, hatte ich zunächst wegen mir fehlender Lebenserfahrung zurückgestellt. Nach nunmehr vierzehn Jahren glaube ich, für meinen persönlichen Lebenskreis eine einigermaßen sichere Beurteilung dieser Frage abgeben zu können.

Bevor ich mich nun dem Untertitel dieser Schrift etwas eingehender widme, möchte ich mich noch der "Gedächtnispflege" im Hinblick auf das Altern zuwenden. Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass die Pflege des Gedächtnisses, insbesondere des Kurzzeitgedächtnisses, im Alter sehr wichtig sei. Erwähnt hatte ich auch das tägliche Üben der sogenannten Rückschau: am Abend lässt man die Tagesereignisse, aber in umgekehrter Reihenfolge, nochmals gedanklich auftreten. Es können hier auch unwichtig erscheinende Handlungen dabei bedacht werden. Zudem empfiehlt es sich, früher einmal gelernte Gedichte zu wiederholen, jedoch nicht nur zeilen-, sondern auch strophenweise rückwärts. (Anmerkung der Redaktion: Herr Zinner hat viele Jahre lang die Seminare der Ruheständler dadurch bereichert, dass er jeden Teilnehmer, der seit dem letzten Seminar einen runden oder halbrunden Geburtstag feiern konnte, mit einem anspruchsvollen Gedicht ehrte.) Erinnerungen an früher durchlebte Szenen sind ebenfalls nützlich. Besonders hilfreich sind bildhafte Darstellungen. Als Frucht der vorbezeichneten Übungen tritt so ein Mitwirken des Unterbewusstseins etwa in folgender Weise ein: Während der Teilnahme an einem Gespräch stelle ich einen mir nicht gegenwärtigen Namen oder unwesentliche Einzelheiten zurück und kann diese so später ohne bewussten Zwang noch während des Gespräches mühelos einbringen. Diesen Erfolg des Auftretens innerer Wahrnehmungen empfinde ich als Bestätigung für das Vorhandensein eines von mir erarbeiteten sogenannten Denkwillens. Eine Erörterung dieses vermutlich wenig bekannten Phänomens wäre meines Erachtens gerade für Späterblindete sehr nützlich.

Lysseyran: These über Angst und Altern

Zum besseren Verständnis fasse ich nachfolgend meine frühere Schilderung kurz zusammen: der erblindete französische Literaturprofessor Lysseyran schreibt zu Beginn seines Buches Le monde commence aujourd’hui: "Das Leben beginnt heute. Das ist für mich eine Realität in den Augenblicken, in denen ich keine Angst habe. Es ist eine Realität für alle Menschen. Manchmal frage ich mich geradezu, ob die Angst nicht die Hauptursache, die einzige Ursache unseres Alterns ist" (Übersetzung Klett Verlag, Stuttgart). Prof. Lysseyran ist leider schon im Alter von 49 Jahren - kurz vor Antritt einer Professur in Basel - durch einen Autounfall ums Leben gekommen. Er hat sich daher wohl kaum von der Richtigkeit seiner vorbeschriebenen These überzeugen können.

Wie bereits angedeutet, habe ich mir deshalb die Beurteilung seiner These zu Eigen gemacht. Ich schloss zunächst aus, dass die Angst die einzige Ursache unseres Alterns ist und beschränkte mich auf die Feststellung eines Zusammenhangs zwischen Angst und Altern überhaupt. Nach weiterer, langjähriger Selbstbeobachtung halte ich nunmehr die Aussage, dass die Angst die Hauptursache des Alterns ist, durchaus für vertretbar.

Mein Versuch, ohne Angst zu leben

Als nunmehr 95-jähriger darf ich, nach jahrzehntelanger Erfahrung rückblickend, Folgendes darlegen. Seit jeher war es mir wichtig, mich durch bewusste seelische und geistige Tätigkeit auf meine innere Sicherheit zu besinnen, die ich mir seinerzeit durch Bewältigung der Kriegsereignisse als Angehöriger der Luftwaffe und als sogenannter Ostvertriebener erworben hatte. Regelmäßige, zumeist christliche Meditationen und eine fortwährende abendliche Rückschau auf das Tagesgeschehen waren hierbei recht hilfreich. Seit langer Zeit begegne ich nunmehr Gefahrensituationen gefasst und lasse Angstgefühle nicht aufkommen. Bei plötzlich eintretenden, sogar lautstarken Ereignissen empfinde ich dankbar eine gewisse innere Vorwarnung, die ein Erschrecken entbehrlich macht. Wichtig erscheint mir hierzu der Hinweis, dass ich mich trotz meines zunehmenden Alters um eine stete Aufmerksamkeit, verbunden mit der Bereitschaft zu einem geistesgegenwärtigen Handeln, bemühe. Nach allem kann ich interessierten Mitmenschen nur raten, ebenfalls den Versuch zu wagen, zunehmend ohne Angst zu leben. Denn dies erscheint mir sicher: jegliche Angst lähmt, verhindert Geistesgegenwart und beschleunigt das uns allen bevorstehende Altern.

Mögen diese Äußerungen über die Bewältigung des dritten Lebensabschnitts dazu ermutigen, ebenfalls das Gnadenalter der "Hochbetagten" erreichen zu wollen und noch möglichst lange freudig zu erleben.

Nachbemerkung

Nach einer neueren wissenschaftlichen Einteilung gehöre ich eigentlich schon zum vierten Lebensabschnitt. Dieser beginnt danach mit dem 85. Lebensjahr (Prof. Dr. Paul B. Baltes, FU-Berlin, in seinem Aufsatz über Rückbildung unserer Bevölkerung u.a. in der "ZEIT" vom 19.05.2005, S. 44 ff). Da ich meine oben beschriebenen Erfahrungen und Erkenntnisse indessen bereits vor mehr als zehn Jahren gewonnen habe, bestehen meines Erachtens keine Bedenken, diese noch dem dritten Lebensabschnitt zuzuordnen.

  

  

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