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Blinde und sehbehinderte ältere Menschen als besondere Zielgruppe unserer Arbeit - 7.

7.
"Karlsruher Erklärung"
zu den Bedürfnissen von Menschen bei Sehverlust im Alter
beschlossen von säkularen und christlichen Sehgeschädigten - sowie anderen betroffenen Organisationen und Einrichtungen und einigen sonstigen Experten

  

1. Wer im Alter einen Sehverlust erleidet, kann trotzdem ein Leben in Würde und weitgehend unabhängig von der Hilfe anderer führen. Er braucht dazu jedoch Zuwendung und gezielte Förderung.
  

2. Je nachdem, wie schnell jemand erblindet, fühlt er sich oft völlig hilflos und wird auch von seinen Angehörigen vielfach so behandelt. Er und sein Umfeld sollten ermutigt werden, diese Haltung möglichst schnell aufzugeben und mit der Anpassung an die neuen Verhältnisse nicht zu warten, bis ihm die in Betracht kommenden Stellen das erforderliche Training zur Bewältigung des Alltags bewilligt haben.
  

3. Ambulante Pflegedienste und die verantwortlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Heimen sollten ihn in der Pflege von Anfang an auf alle nur denkbare Weise zu aktivieren versuchen, damit er wenigstens einen Teil der Verrichtungen, für die nach § 14 Abs. 3 und 4 des Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI) Pflegeleistungen gewährt werden, alsbald wieder selbst ausführen kann und so die Möglichkeit erhält, die Pflegeleistungen für andere Dienste zu verwenden, für die sie sonst nicht reichen würden.
  

4. Allgemein kann gesagt werden: je mehr jemand wieder allein zu tun vermag, je schneller er in Sehgeschädigtenorganisationen heimisch wird und je früher ihm der Weg zu einem professionellen Training gezeigt und eröffnet wird, desto leichter wird er auch die psychischen Folgen plötzlichen oder allmählichen Sehverlustes überwinden, soweit ihm das nach seiner Persönlichkeit und seinem Umfeld möglich ist.
  

5. Dazu ist allerdings auch erforderlich, dass der Anspruch auf das Training eines noch verbliebenen Sehrestes und das Training lebenspraktischer Fertigkeiten/Fähigkeiten im Sozialgesetzbuch IX und in allen anderen einschlägigen Sozialgesetzbüchern ausdrücklich festgeschrieben wird, statt, wie es gegenwärtig nötig scheint, die Ausformung dieses Anspruchs von der Rechtsprechung zu erwarten, die Jahre dazu brauchen würde und auch dann kaum zu optimalen Ergebnissen gelangen dürfte.
  

6. Augenärzte tun ihr Bestes, einen etwa drohenden Sehverlust aufzuhalten. Wo Sie das voraussichtlich langfristig nicht können, bitten wir sie und machen ihnen Mut, es ihren Patienten möglichst früh zu sagen, um ihnen den Weg zu anderen gleichermaßen betroffenen Menschen und professionellen Diensten zu ebnen, damit sie alsbald Gelegenheit erhalten, sich gelassen und mit sachgerechter Unterstützung auf den neuen Lebensabschnitt vorzubereiten und von allen ihnen künftig je nach dem Grad ihres Sehverlustes zur Verfügung stehenden sozialen Rechten und Hilfen Gebrauch zu machen.
  

7. In vielen Fällen wird dabei auch eine Sehbehindertenambulanz helfen können. In manchen Bundesländern gibt es aber solche Ambulanzen noch nicht in genügender Dichte. Hier bitten wir die zuständigen Stellen, möglichst schnell für Abhilfe zu sorgen. Das kann auch zur Vermeidung von vorzeitigem Ausscheiden aus dem Berufsleben sowie zur Abwendung vorzeitiger Pflegebedürftigkeit und damit zur Kostendämpfung beitragen.
  

8. Für Menschen, die im Sinne unserer Sozialgesetze von "Blindheit" bedroht sind, kann auch hilfreich sein zu wissen, dass sie dann - unabhängig von Einkommen und Vermögen - wenigstens einen finanziellen Nachteilsausgleich erhalten werden, der zur Aufrechterhaltung und sogar Steigerung ihrer Unabhängigkeit beiträgt und deshalb dringend geboten ist. Da die Gewährung dieses Ausgleichs erfahrungsgemäß hier und da immer wieder einmal in Frage gestellt wird, betonen wir ausdrücklich seine große Wichtigkeit. Die materiellen Nachteile, die Senioren bei Sehverlust erleiden, liegen zwar zum Teil auf anderem Gebiet als diejenigen jüngerer Menschen, wiegen aber im Ergebnis ebenso schwer. Wir fügen hinzu, dass auch hochgradig sehbehinderte Menschen finanzielle Nachteile erleiden und darum, sobald die öffentlichen Haushalte dies ermöglichen, gleichfalls dringend eines Ausgleichs bedürfen, der bisher nur in wenigen Bundesländern gewährt wird.
  

9. Ältere Menschen leiden, je nach dem Grad ihres Sehverlusts, mehr oder weniger unter spezifischen Kontaktschwierigkeiten. Darauf weisen wir Heimleitungen, teilstationäre und ambulante Dienste sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der sonstigen Altenhilfe ausdrücklich hin. Wir bitten sie, solchen Menschen ihrerseits Brücken zu bauen, da sie sonst leicht völlig isoliert bleiben können.
  

10. Sehgeschädigtenorganisationen bitten wir, verstärkt Kurse anzubieten, in denen Senioren - und zwar unter sich! - auf allen in Betracht kommenden Gebieten unabhängiger werden und lernen können, ihre geistige und körperliche Fitness bis ins hohe Alter hinein aufrecht zu erhalten oder gar zu steigern. Wir bitten sie außerdem, sich sehgeschädigter Heimbewohner anzunehmen, soweit diesen im Blick auf ihre Sehschädigung noch geholfen werden kann, und sich außerdem zur Mitwirkung in Heimbeiräten zur Verfügung zu stellen.
  

11. Nach Schätzungen, die aber schon Jahre zurückliegen und wegen zunehmender Lebenserwartung und zunehmendem Erblindungsrisiko im Alter laufend nach oben korrigiert werden müssen, leben bei uns 155.000 "blinde" und etwa dreimal so viele sehbehinderte Menschen. Gemessen daran ist die Zahl derer, die über Sehgeschädigtenorganisationen Trainingsmöglichkeiten, Nachteilsausgleiche, Hörbüchereien und Hilfsmittel informiert werden, sehr gering. Das beeinträchtigt die Lebensqualität der vielen Unerreichten in hohem Maße. Wir bitten darum alle Beteiligten, mit uns darüber nachzudenken, wie dies trotz Datenschutzes und augenärztlicher Schweigepflicht geändert werden könnte.
  

12. Davon ausgehend, dass in speziellen Blindenaltenheimen, die größtenteils schon vor Jahrzehnten errichtet worden sind, die Bewohner im allgemeinen zwar ihre Mahlzeiten gemeinsam einnehmen und zu Beschäftigungsrunden aller Art zusammenkommen, in der übrigen Zeit aber oft vereinzelt leben, bitten wir die Heime zu prüfen, wie sie insbesondere im Falle nötiger Umbauarbeiten das Zusammenleben auch blinder Menschen durch die Bildung von Wohngemeinschaften modernen Erkenntnissen anpassen könnten.
  

13. In der Annahme, dass sich die Sehgeschädigtenorganisationen im Lande Baden-Württemberg zu einem Arbeitskreis "Seniorenangelegenheiten" zusammenschließen, der dem gleichnamigen bundesweiten Arbeitskreis zuarbeiten und den Kontakt zu anderen Seniorenorganisationen und Altenhilfeeinrichtungen des Landes suchen wird, bitten wir die Organisationen in anderen Bundesländern, ebenso zu verfahren.
  

14. Mehr und mehr werden bei uns auch Migranten einen Sehverlust erleiden. Ihnen können wir nur helfen, wenn sie sich organisieren, um ihre Interessen wahrzunehmen; denn erst dann können wir mit ihren sehgeschädigten Landsleuten kooperieren und etwas für sie tun. Dazu sind wir gern bereit und wollen zu gegebener Zeit auch die nötige Kompetenz dafür erwerben.
  

15. Wir nehmen uns vor, die Adressaten dieser Karlsruher Erklärung immer wieder zu bitten, den hier aufgezeigten Bedürfnissen bei Sehverlust im Alter in ihrem Bereich Rechnung zu tragen, und zu gegebener Zeit den Stand der Verwirklichung unserer Anliegen zu überprüfen.
  

16. Schließlich ermutigen wir andere Behindertenverbände bundesweit, die Bedürfnisse ihrer Seniorenmitglieder in gleicher Weise herauszuarbeiten und öffentlich zu machen, wie wir das hier für sehgeschädigte Senioren getan haben.
  

Karlsruhe, den 27. Juni 2003
gez. für alle anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer
Dr. Hans-Eugen Schulze
Beauftragter für Seniorenangelegenheiten des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten und
Beauftragter für Blinden- und Sehbehindertendienst der
Evangelischen Landeskirche in Baden
  

  

  

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