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Prof. Dr. Kurt Jacobs - Teil 1

 

Prof. Dr. Kurt Jacobs
Jahrgang 1937

 


  

Meiner lieben und treuen Frau Elvira sowie meinen beiden liebreizenden Töchtern Sarah Britta und Larissa Louise gewidmet
  

1. Beruf
  

Auf Grund des Themas meiner Dissertation, erhielt ich im Sommer 1970 einen Ruf an die Pädagogische Hochschule Ruhr in Dortmund, an der ich, innerhalb des Seminars für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik, für die folgenden 5 Jahre, als Hochschullehrer, im Range eines akademischen Rates, den Lehr- und Forschungsbereich der "Beruflichen Rehabilitation und Integration Behinderter", übernahm. Im Jahr 1975 erhielt ich vom Hessischen Wissenschaftsministerium den Ruf an die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, wo ich 27 Jahre lang bis 2002 die Professur "Berufliche Rehabilitation und Integration Behinderter" in Lehre und Forschung bekleidete - im Übrigen die erste Professur dieser Art in Deutschland überhaupt. Diese 27 Jahre waren gekennzeichnet durch ein erfülltes Berufsleben als Wissenschaftler und Hochschullehrer, des von mir vertretenen Wissenschaftsbereichs. Durch die ständige Begegnung mit jungen Studierenden, bin ich schließlich bis auf den heutigen Tag im Herzen jung und auch körperlich fit geblieben, auch wenn in den letzten Jahren die ständig steigenden Studierendenzahlen mich oft an meine Leistungsgrenze gebracht haben. Gerade in den letzten Jahren war aber der gesellschaftliche Werteverfall immer mehr spürbar. Einzelkämpfertum, Ellenbogenstrategien und das Fixiertsein nur auf sich selbst, haben inzwischen immer mehr die Oberhand gewonnen, wobei die menschlichen Tugenden, wie Hilfsbereitschaft, Verständnis und Einfühlsamkeit sowie Solidarität, allmählich dem Untergang preisgegeben wurden. So haben mich auch die zunehmenden aggressiven Destruktionstendenzen und der zunehmende Bücherklau in den Bibliotheken der Universität, mehr und mehr abgestoßen. So blieb mir zwar auf Grund meiner Blindheit, die optische Konfrontation mit den Graffiti-Schmierereien im Universitätsgebäude erspart, es empörte mich aber vor allem die Tatsache, dass die zu Semesteranfang an den Fahrstuhlsensoren angebrachten Blindensymbole, schon innerhalb von zwei Wochen völlig sinnlos abgerissen wurden. Beim Eintritt in meine Pensionierung im Oktober 2002, wollte ich an der Ausbildung solcher zukünftiger Lehrer und Lehrerinnen unserer Kinder keinen Anteil mehr haben.
  

2. Die Pensionierung - ein völlig neues Lebensgefühl

2.1 Die prophezeite Leere ist ausgeblieben
  

Viele Freunde und ältere Kollegen prophezeiten mir, bereits Monate vor meiner Pensionierung, dass mein bevorstehender Ruhestand, als neuer Lebensabschnitt, mit einer gewissen Leere verbunden sein würde. Diese Prophezeiungen haben mich nie geschreckt, weil ich an sie nie geglaubt habe. In Wirklichkeit trat das Gegenteil ein. So stellte sich alsbald bei mir ein gewisses Glücksgefühl darüber ein, keine 70-80-stündige Arbeitswoche mehr zu haben, Verabredungen und Einladungen nunmehr viel freizügiger planen zu können, sich nicht mehr so gehetzt durch die Woche zu schlängeln und insgesamt das Mehr an Freizeit, also letztlich auch mehr Freiheit, genießen zu können. Erst jetzt konnte ich mein schönes Haus, inmitten der schönen Taunuslandschaft direkt am Wald im Stadtteil Langenhain der Kreisstadt Hofheim gelegen, genießen. Schließlich war es zuvor, während der Ausübung meiner Professur, nur Schlafstätte und auch noch oft am Wochenende Arbeitsstätte, um alle wissenschaftlichen Hausarbeiten und Klausuren korrigieren und laufende Seminare vorbereiten zu müssen. Wie schön ist doch bis zum heutigen Tage das Leben, wenn man morgens früh nicht unmittelbar nach dem Ertönen des Radioweckers aufstehen muss, sondern Zeit dazu hat, langsam wach zu werden und dem morgendlichen Konzert der vielen Vögel am Waldrand, ohne irgendeinen Zeitdruck, zu lauschen. Jetzt genieße ich es, einem Hörbuch oder einer Tonbandzeitung zu lauschen, ohne dabei ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, dass ich stattdessen eigentlich noch einige Klausuren korrigieren oder noch ein Seminar vorbereiten müsste. So komme ich auch jetzt dazu, endlich einmal ohne Zeitdruck, die vielen Hörspiele zu hören, die sich inzwischen, durch die Aufnahmen mit meinem Satellitenradio bei verschiedenen Sendern, zu einer stattlichen Sammlung angehäuft haben.
 

2.2 Meine Familie als Aktionsfeld eines vollen Lebens
  

Dieser Lebensabschnitt begann bereits 12 Jahre vor meiner Pensionierung, im Jahre 1990, als ich meine jetzige Frau Elvira, während eines Spanienurlaubs, kennenlernte. Sie ist eine sehr liebenswerte, treue und dem Leben zugewandte Lebensgefährtin, sodass ich - wagemutig wie ich bin - mit ihr, zunächst eine partnerschaftliche Beziehung und später eine Ehe einging, obwohl sie 25 Jahre jünger ist, als ich und somit auch gleichzeitig ein Jahr jünger ist, als mein ältester Sohn aus meiner ersten Ehe. Sie erfüllte mir meinen langgehegten Traum, neben meinen beiden Söhnen auch noch gern zwei Töchter haben zu wollen. So wurden Sarah Britta 1991 und Larissa Louise 1996 geboren. Auch wenn ich mich während meiner Berufstätigkeit stets darum bemüht habe, eine enge Vater-Kind-Beziehung zu beiden Töchtern aufzubauen und zu halten, so haben dennoch beide in den Jahren meiner Berufstätigkeit, durch meine ständige Arbeitsüberlastung, oft doch recht wenig von mir gehabt. Dies hat sich nun, dank meiner Pensionierung, grundlegend geändert. Sarah ist heute 16 Jahre alt, besucht das Gymnasium in der 10. Klasse und ist, wie mir meine sehende Umwelt immer wieder versichert, ein bildhübsches Mädchen, das durch ihre liebenswerte Art, ihre Hilfsbereitschaft, ihr Einführungsvermögen und ihr soziales Engagement - sie ist schon seit 7 Jahren Mitglied der örtlichen Jugendfeuerwehr- allenthalben sehr beliebt ist. Bei gemeinsamen Vorbereitungsarbeiten für Klassentests, erhalte ich meinerseits durch sie die Gelegenheit, meine Latein- und Englischkenntnisse aufzufrischen, andererseits bin ich aber auch augenblicklich fast täglich Angriffspunkt ihrer hormonell bedingten Achterbahnfahrten, die bekanntlich die Pubertät auszeichnen. Hier spielt sich dann zumeist ein Feuerwerk in der Familiendynamik ab, das ich aber bis jetzt, durch meinen mir eigenen heilpädagogischen Langmut, gut zu ertragen und zu lenken vermag. Insofern findet sich von der mir so oft angekündigten Ruhe und Beschaulichkeit in der Pensionierungsphase keine Spur, ja mein Leben verläuft sehr dynamisch und abwechslungsreich, wie es eigentlich in der Regel Väter zwischen 30 und 40 Jahren erleben. So voll im Leben stehend, bietet mir meine Familie keine Gelegenheit, über das Älterwerden nachzudenken - ein Umstand, den ich auch nicht vermisse.

Einen ganz maßgeblichen Anteil daran hat auch meine jüngere Tochter Larissa Louise. Da sie von mir die angeborene Aniridie (Fehlen der Iris) auf beiden Augen, gekoppelt mit einer hohen Lichtempfindlichkeit und einer Sehschwäche, in Gestalt eines Sehvermögens von 1/10, geerbt hat, verbindet mich mit ihr eine ganz besondere behindertenspezifisch-solidarische Beziehung. Ihre alltäglichen Probleme beim Sehen und die damit oft gegebenen alltäglichen Verzichtsleistungen, erinnern mich ständig an meine eigene Kindheit, auch wenn ihre heutige Situation ihr, durch die vielen, inzwischen erfundenen Hilfsmittel (Kaltlichtlampe, Lichtlupe, Bildschirm-Lesegerät), erhebliche Erleichterungen verschafft, von denen ich als Kriegskind nicht einmal träumen konnte, weil diese Hilfsmittel damals noch gar nicht erfunden waren. In der Erziehung von Larissa war ich von Anfang an stets darauf bedacht, den Fehler meiner Eltern mir gegenüber, die Sehbehinderung zu tabuisieren und weitgehend zu verdrängen oder gar zu verleugnen, nicht zu wiederholen. Mit ihrer bedächtigen, anmutigen und zuweilen schon erstaunlich tiefsinnigen Art vermag Larissa, mit ihren 11 Lebensjahren, heute schon offen und frei über ihre Sehbehinderung zu sprechen und die damit alltäglich verbundenen Erschwernisse zu problematisieren. In einem Punkt aber habe ich bei beiden Töchtern, insbesondere aber bei Larissa, die Erziehungskonzeption meines Vaters fortgesetzt, nämlich sie im Sinne einer kontinuierlichen Ermutigungs- und Selbstbehauptungspädagogik zu Erdenbürgern zu erziehen, die mit Lebenszutrauen und Lebensoptimismus ihr Leben täglich neu in die Hand nehmen und bei erzieherischer Begleitung weitgehend selbstbestimmt zu gestalten. Dazu gehört auch nach einigen Beratungsprozessen zwischen Eltern und Kind Larissas autonome Entscheidung, anstatt die Grundschule vor Ort integrativ zu besuchen, auf die Sehbehindertenschule nach Frankfurt zu gehen sowie seit dem Schuljahr 2007/2008 nunmehr die 5. Klasse des gymnasialen Zweiges der Carl-Strehl-Schule der Deutschen Blindenstudienanstalt in Marburg mit viel Freude und Lernmotivation sowie nach inzwischen gelungenem Ablösungsprozess vom Elternhaus zu besuchen. Auf Grund ihres guten Sozialverhaltens, mit dem sie insbesondere schwächere Schüler unterstützt, ist sie bei allen Mitschülern und Lehrkräften sehr beliebt. Über ihre diesbezügliche Entscheidung bin ich auch heute noch sehr glücklich, bleibt ihr doch eine ganze Menge an Stress erspart, den ich, auf der Grundschule und auf dem Gymnasium integrativ beschult, selbst schon in einer Schulzeit verkraften musste, die noch nicht vom Pisa-Fieber gekennzeichnet war.
 

2.3 Fitness und Gesundheit
  

Da ich schon während meiner Berufstätigkeit immer darauf bedacht war, in einem 2-Jahres-Zyklus mit einer Heilfasten- oder Schrothkur, nach einer arbeitsbedingten Erschöpfungsphase, meine Kräfte immer wieder aufzutanken, wird mir dies nunmehr im Pensionsalter mit einer guten und stabilen Gesundheit belohnt. In meiner 32-jährigen Hochschullehrertätigkeit erkrankte ich lediglich dreimal für eine Woche an einer Grippe. Bluthochdruck, Herzbeschwerden, Rückenschmerzen sowie Kopfweh oder Schlafstörungen kenne ich nur aus einschlägigen Berichten in Büchern oder Zeitschriften. Daher kommen mir auch die zahlreichen Berichte über altersbedingte Erkrankungen, wie sie z.B. stets auf der Tonbandzeitung der Fachgruppe Ruhestand zu vernehmen sind, vor, wie Berichte aus einer anderen Welt. Dennoch ist dies für mich keine Selbstverständlichkeit und in Anbetracht meiner guten und stabilen Gesundheit, empfinde ich jeden Tag als ein neues Geschenk. Wen wundert es da, wenn meine beiden Töchter angesichts ihres Vaters, der Einkaufstüten schleppt oder Getränkekisten aus dem Kofferraum des Autos wuchtet und in den Keller trägt, überhaupt nicht realisieren, dass ich vom Alter her eigentlich ihr Großvater sein könnte. So sorgt auch meine junge Frau sich stets um den Erhalt meiner Fitness und weckt mich zuweilen morgens schon um kurz vor 6 Uhr, um mit ihr Arm in Arm eine gemeinsame Morgenrunde, mit unserem schwarzen Labrador, durch den nahe gelegenen Taunuswald zu gehen. Widerstände dagegen ergeben sich bei mir lediglich im Winter, da ich mit zunehmendem Alter den eisigen Wind im Taunus immer schlechter ertragen kann und auch das Stapfen durch den Schnee mehr Abneigung als winterliche Freuden erzeugt.
   

2.4 Farberlebnis und Träume
   

Insbesondere in der Wissenschaftsdisziplin der Psychologie wird seit langem auf dem Gebiet des Farberlebens und der Träume bei blinden Menschen geforscht. Da dieser Erlebniskomplex in letzter Zeit häufiger thematisiert wird, möchte ich an dieser Stelle, aus der Sicht eines spät erblindeten Menschen, dazu einige Anmerkungen machen.

Trotz eines zunächst recht erfolgreichen operativen Eingriffs, bei meiner beidseitigen Netzhautablösung, im Jahre 1968, stellte sich zwei Wochen später, durch eine beidseitige Ablösung der Aderhaut, verbunden mit starken Bluteinbrüchen in beiden Augen, meine Vollblindheit endgültig ein. Die, in der Literatur oft beschriebene, "Finsternis" oder "ewige Nacht" trat aber bei mir, zu meiner eigenen Verwunderung, nicht ein. Seit meiner Erblindung habe ich, bis auf den heutigen Tag, unterschiedliche Farberlebnisse, die, wie mir augenärztlicherseits erklärt wurde, auf ein „Eigenleuchten der Netzhaut“ zurückzuführen seien. Also sendet die Netzhaut meiner Augen ständige unterschiedliche Lichtreize ans Gehirn. So schaue ich z.B. häufig beim Einschlafen beidseitig auf eine helle Wand, was mich an das Ausleuchten einer Wand mit starken Scheinwerfern erinnert. Nach dem Erwachen schaue ich zuweilen auf eine orange-goldene Wand, wobei mich dieses Farberlebnis an eine in der Sonne liegende Orange erinnert. Im Verlaufe eines Tages schaue ich dann zuweilen auf eine grasgrüne Wand, die mit kleinen weißen Feldern durchsetzt ist, gleichwohl so, als ob ich auf eine saftige Wiese mit unzähligen Gänseblümchen schaue. Es kann sich aber auch im Laufe des Tages ein hässliches Grau einstellen, das ebenfalls mit kleinen weißen Feldern durchsetzt ist. Dieses Farberlebnis erinnert mich stark an einen Straßenbelag aus Asphalt, auf dem noch einige Schneereste liegen. In den zurückliegenden 39 Jahren habe ich immer wieder versucht, die unterschiedlichen Farberlebnisse mit bestimmten Tätigkeiten, Erlebnissen oder unterschiedlichen Stimmungen im Tagesverlauf in Verbindung zu bringen, jedoch ist es mir nicht gelungen, einen diesbezüglichen Zusammenhang herzustellen. Nach wie vor empfinde ich die unterschiedlichen Farbwahrnehmungen als sehr interessant und auch als anregend, muss ich mich doch somit nicht krampfhaft an Farbeindrücke, die ich als Sehender gehabt habe, erinnern, da sie mir stets in wechselnder Folge präsent sind (Anmerkung der Redaktion: Es handelt sich um das Charles Bonnet-Syndrom, vgl. Nadig: Visuelle Phantomwahrnehmungen bei sehbehinderten und blinden Menschen, Marburger Schriftenreihe (des DVBS).

Träume sind für mich etwas sehr Lebendiges und Spannendes. Ich träume stets als Sehender, in farbigen Bildern, in dem geringen Sehvermögen, das ich als sehender junger Mensch hatte. Interessant und geradezu etwas witzig ist dabei, dass ich im Traum, wenn ich mich im Straßenverkehr bewege, nur Autos sehe, die zu meinen sehenden Zeiten auf den Straßen fuhren. Solche Träume sind also in der Tat eine wahre Oldtimerparade. Dieser Umstand wurde bis zum heutigen Tag auch nicht durch die Tatsache verdrängt, dass ich als Auto-Fan bei jeder möglichen Gelegenheit die neuesten Automodelle der verschiedenen Automarken abtaste, um mir ihre heutige Form erfahrbar zu machen. Offensichtlich also, sind die ursprünglichen Seherfahrungen als Reize für das Gehirn in meinen Träumen wichtiger, als aktuelle Tasterfahrungen. Es ist zwar für mich in meinen Träumen sehr schön, sehen zu können, jedoch enden die Träume dann zumeist beim Wachwerden mit der frustrierenden Erkenntnis, letzten Endes doch blind zu sein.
  

2.5 Mobilität und Freizeitgestaltung
   

Die, schon kurze Zeit nach meiner Erblindung 1968, getroffene Entscheidung, ein intensives Langstock-Training zu absolvieren, hat sich in Bezug auf meine Mobilität bis zum heutigen Tag sehr gelohnt. Die dadurch gewonnene Mobilität, gepaart mit einem guten Orientierungsvermögen, das ich mir als Späterblindeter erhalten habe, versetzte mich schon in den Jahrzehnten meiner Berufstätigkeit in die Lage, den täglichen Weg von Hofheim zur Universität Frankfurt weitgehend selbstständig zu bewältigen, wenn ich auch im Frankfurter Hauptbahnhof selbst, die Hilfe der Bahnhofsmission in Anspruch nehmen musste. So ist es auch heute für mich kein Problem, von zu Hause aus den 400 Meter langen Weg zur Bushaltestelle allein zurückzulegen, um mit dem Bus zum Hofheimer Bahnhof zu gelangen. Da wir heutzutage in Deutschland ein gut funktionierendes Netz von sozialen Hilfsdiensten (z.B. Bahnhofsmission) haben, sind für mich selbstständige Reisen ohne sehende Begleitung mit dem Zug oder auch mit dem Flugzeug kein Problem. Um solche Unternehmungen durchführen zu können, bedarf es natürlich eines gewissen Planungs- und Organisationsmanagements, denn Blindheit ist eine Behinderung, die zum Erhalt der Selbstständigkeit organisiert werden muss.

Meine Mobilität im eigenen Haus ist, auf Grund meines Orientierungsvermögens und meiner täglich gelebten, strikten Ordnungsstrukturen, uneingeschränkt gegeben. So führen solche Ordnungsstrukturen z.B. auch dazu, dass ich in unserem Haushalt zuständig bin für das Ein- und Ausräumen der Spülmaschine, da ich erheblich mehr Geschirr in die Spülmaschine einzuräumen vermag als meine Frau.

Da der Erhalt meiner Selbstständigkeit ein wesentliches Lebenselement für mich ist, bin ich den Sportarten wie Jogging oder Walking nicht sehr zugetan, da ich dabei stets auf eine sehende Begleitung angewiesen wäre. Das bereits in meiner Jugend leidenschaftlich betriebene Radfahren, genieße ich aber auch heute noch im Alltag. So besitzen meine Frau und ich ein leistungsstarkes Tandem, mit dem wir bei schönem Wetter an Wochenenden schöne Radtouren unternehmen. Dabei werden wir zumeist von unseren Töchtern begleitet, die ebenfalls auf einem Kinder-Tandem radeln. Weiterhin genießen wir die Wochenenden oft auf dem wunderschönen Campingplatz "Naturpark Odenwald", in Limbach, wo wir seit vielen Jahren einen Standplatz haben. Weitere schöne Stunden in der Freizeit verleben wir auch mit unserem großen Reisemobil, mit dem wir an Wochenenden für 3 Tage schöne Campingplätze anfahren und auch in den Schulferien schöne Urlaubsfahrten, wie z.B. mehrfach nach Italien unternehmen. So stellt sich mein heutiges Leben sehr abwechslungsreich und bunt dar, sodass die, für das Alter oft prophezeite, Langeweile oder Eintönigkeit für mich überhaupt kein Thema sind.
 

2.6 Freundschaften
   

Je älter ich werde, umso behutsamer und anspruchsvoller gehe ich mit dem Phänomen Freundschaft um. Auf Grund meiner Lebenserfahrung habe ich gelernt, echte Freunde von denen zu unterscheiden, die sich nur als solche ausgeben, weil sie sich durch den persönlichen Kontakt mit mir irgendwelche Vorteile versprechen. Durch diese Einstellung meinerseits ist der Kreis meiner echten Freunde auf einen kleinen, erlesenen Kreis zusammengeschrumpft. So gibt es aus meiner Zeit als Hochschullehrer an der Universität Frankfurt einige ehemalige Studierende, die nach ihrem Examen den Kontakt zu mir gehalten haben, woraus sich im Laufe der Jahre echte Freundschaften entwickelten. Hier ist vor allem mein Freund Harald Goll, der bei mir vor 20 Jahren sein Diplomexamen ablegte, anschließend bei mir promovierte, sich auf diesem Fundament ebenfalls zum Hochschullehrer profilierte und heute eine Professur für Geistigbehindertenpädagogik, an der Universität Erfurt, innehat. Hier wurde aus dem ehemaligen Doktor-Vater-Verhältnis eine echte Freundschaft, die ihresgleichen sucht.

So hat sich auch eine schöne langjährige Freundschaft inzwischen mit Colli Seibt entwickelt, die mich während meiner letzten 5 Jahre an der Universität Frankfurt, in der Funktion einer studentischen Hilfskraft, als Assistentin zuverlässig und gewissenhaft unterstützt und mich auf vielen Dienstreisen begleitet hat. Heute bin ich für sie so etwas wie ein Ersatzvater, von dessen Lebenserfahrung sie schon bei manchen Problemen hat profitieren können.

Einen besonderen Platz nimmt mein Freund Dieter Kestner ein, der gemeinsam mit mir im Jahre 1945 eingeschult wurde, woraus sich im Laufe der Jahrzehnte eine Lebensfreundschaft entwickelte, sodass wir im Jahre 2005 unsere 60-jährige Freundschaft gebührend gefeiert haben. Solche echten Freundschaften stellen für mich unverzichtbare Elemente meiner Lebensqualität dar, sind doch Menschen, denen man sich eng verbunden fühlt, von denen man sich verstanden fühlt und auf die man sich in jeder Situation helfend und unterstützend verlassen kann, gerade zu ein Geschenk des Himmels, dass das eigene Leben facettenreich und lebenswert werden lässt.
  

3. Von der Pensionierung unmittelbar in den Unruhestand
  

Kaum hatte ich im Oktober 2002 meine zahlreichen Umzugskisten, mit denen ich ausgewählte Examensarbeiten und Seminarpapiere zu mir nach Hause überführt hatte, ausgepackt, da ereilte mich die Einladung von Seiten der Stadt Hofheim, an einem Arbeitskreis zur Gründung eines Behindertenbeirats der Kreisstadt Hofheim, mitzuwirken. Nach ungefähr einem Jahr legte dann der Arbeitskreis eine, mit der Hessischen Gemeindeordnung kompatible, Satzung eines Behindertenbeirats vor, nach der dieser ein offizielles und gewähltes, elfköpfiges Gremium des Magistrats der Stadt Hofheim sein sollte. So wählten ausschließlich Bürger und Bürgerinnen mit Behinderungen der Stadt Hofheim, per Briefwahl im November 2003, die 11 Mitglieder dieses Beirats, wobei vorgegeben war, dass alle Mitglieder selbst von einer Behinderung betroffen sein mussten. Die Konstituierende Sitzung des Behindertenbeirats fand am 19.02.2004 statt, auf der ich zum Vorsitzenden gewählt wurde und damit gleichzeitig qua Satzung das Amt des Behindertenbeauftragten der Kreisstadt übernahm. Dass dies alles recht reibungslos und glatt verlief, ist insbesondere dem diesbezüglichen großen Engagement unserer Bürgermeisterin Gisela Stang zu verdanken, die ebenfalls als Mitglied des Vorbereitenden Arbeitskreises die Gründung eines Behindertenbeirats von Anfang an mit allen Kräften unterstützte und seit der Gründung des Beirats die Stellung eines "Beratenden Magistratsmitglieds" in diesem Gremium einnimmt. So ist es auch ihrem Engagement zu verdanken, dass ich innerhalb weniger Monate ein eigenes Büro im Rathaus erhielt und mir bei Aufnahme meiner Arbeit ein Universal-Reader, im Werte von 5000,00 Euro, zur Verfügung gestellt wurde. Bei diesem Gerät handelt es sich um einen Computer, kombiniert mit einem Scanner, mit dem ich alle Druckerzeugnisse einscannen und mir mit einer angenehmen Frauenstimme vorlesen lassen kann. Somit wurde ich von Anfang an in die Lage versetzt, völlig unabhängig Magistratsvorlagen, Infobriefe, Veranstaltungshinweise usw. selbst zu lesen und zu bearbeiten. Weiterhin steht mir eine Angestellte des Magistrats, als Assistentin zur Erledigung von Schreibarbeiten und zur Registraturführung mit 15 Stunden pro Woche, zur Seite.

In Ausübung dieses Amtes kommt mir natürlich meine Kompetenz zu Gute, die sich einerseits aus meiner eigenen Behinderung, aber auch andererseits aus meiner Hochschultätigkeit mit dem Schwerpunkt Sonderpädagogik ergibt. Inzwischen hat sich nunmehr nach 44 Monaten der Aufgabenkreis, im Hinblick auf eine b arrierefreie Stadtgestaltung, sehr erweitert, zumal ich auch intensiv darum bemüht bin, die Zielsetzungen des vor gut zwei Jahren in Kraft getretenen Hessischen Behindertengleichstellungsgesetzes, in unserer Kommune umzusetzen. Dabei hat es sich herausgestellt, dass sehr viel Verhandlungsgeschick, Beharrlichkeit und Durchhaltevermögen notwendig sind, um auf Seiten des Magistrats der Stadt Hofheim, die Bedürfnisse und Belange von Bürgerinnen und Bürgern in Hofheim, anzugehen und durchzusetzen. Einerseits erfordert dies einen oft hohen Zeitaufwand und viel Kraft, andererseits bringen aber auch die erzielten Erfolge viel Freude und Zufriedenheit. Dieses Ehrenamt füllt mich zeitlich so stark aus, dass ich dies auch nur im Status eines Pensionärs durchführen kann, auch wenn damit ähnlich einer regulären Berufstätigkeit ein täglicher Unruhestand verbunden ist. Viele Arbeiten kann ich auch zu Hause erledigen, da ich in meinem häuslichen Büro über das gleiche Vorlesegerät verfüge, wie in meinem Büro in der Stadt und für mich im Rathaus ankommende Telefongespräche automatisch zu mir nach Hause umgeleitet werden. Meine Amtszeit ist satzungsgemäß für insgesamt 5 Jahre bis zu den Neuwahlen vorgesehen. Außerdem wurde ich im März 2004 von der Hessischen Landesregierung in den (nach den Bestimmungen das Hessischen Behindertengleichstellungsgesetzes zu gründenden) Landesbehindertenbeirat gewählt. Neben allen anderen Mitgliedern, die ausschließlich Vertreter von Behindertenverbänden sind, nehme ich in diesem Gremium als Einziger eine unabhängige, also autonome Stellung ein. Damit hat sich mein Wirkungskreis über die Kommune hinaus auch in Bezug auf bestimmte Probleme und Fragestellungen auf das Land Hessen ausgeweitet.

Insgesamt erfüllen mich diese ehrenamtlichen Tätigkeiten mit großer Zufriedenheit, da ich nicht dazu verurteilt bin, meinen Pensionärsalltag mit Trivialitäten zu verbringen, sondern schon Einiges für ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderungen, in einem mehr und mehr barrierefreien, städtischen Raum bewirkt habe und noch werde bewirken können, um an der Umgestaltung unserer Lebensräume, im Hinblick auf mehr Akzeptanz, Mobilität und größere gesellschaftliche Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern mit Behinderungen, tatkräftig mitzubauen.
    

4. Schlussgedanken
   

Ich bin froh und glücklich darüber, nicht zu den Pensionären zu gehören, deren Tagesstruktur nur in den drei bis vier Mahlzeiten besteht und die oft nicht wissen, die dazwischen auftretenden Leerräume sinnvoll zu füllen. Da es mir tatsächlich gelungen ist, mich von der Universität Frankfurt endgültig und ohne ein Stück Traurigkeit zu verabschieden, habe ich für mich neue innere Freiräume gewonnen, in denen ich mit Elan und Begeisterung, im oben geschilderten Sinn, noch viel bewirken kann, und mir somit eine große innere Lebenszufriedenheit zuteil wird. Zudem sind meine drei, mich im Lebensalltag umgebenden, jugendlichen Frauen in Gestalt meiner Frau und meiner beiden Töchter für mich ein echter Jungbrunnen und Lebensquelle, der mich das Älterwerden vergessen lässt und dafür sorgt, dass ich in meinem Herzen jeden Tag als einen Sonnentag erlebe, der mir eine innere Fröhlichkeit beschert und mich somit mein volles und zugegebenermaßen recht unruhiges Leben genießen lässt. Möge es noch lange so bleiben!


 

 

Anmerkung der Redaktion: Ergänzend finden Sie einen Vortrag, den Prof. Jacobs im Oktober 2009 bei einem Seminar der Seniorengruppe des DVBS gehalten hatte.

 

 

 

Die Entwicklung eines ehrenamtlichen Engagements

als Flucht vor dem Pensionierungsloch

  

  

  

  

 

 

 



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